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Buchbesprechung: Susin Nielsen „Optimisten sterben früher“

Cover: „Optimisten sterben früher“Lesealter 14+(Verlag Urachhaus 2021, 255 Seiten)

„Adresse unbekannt“ hieß das erste in Deutsche übersetzte Buch der Kanadierin Susin Nielsen – und das erzählte eine temporeiche, mitunter immer wieder witzige Geschichte über einen Jungen, der mit seiner Mutter von Obdachlosigkeit bedroht in einem VW-Bus lebt. Susin Nielsens neuestes Buch wendet sich an etwas ältere Leser/innen – auch wenn das Cover, das mir persönlich nicht so gefällt, das vielleicht gar nicht vermuten lässt. Der Titel aber hat zumindest mein Interesse geweckt …

Inhalt:

Petula ist voller Ängste und versucht deswegen alles unter Kontrolle zu halten. Zu Hause sammelt sie Zeitungsartikel, die von Menschen berichten, die bei Unglücksfällen ums Leben gekommen sind – sie will daraus lernen und gegen alle Gefahren gewappnet sein. So geht Petula zum Beispiel auf dem Heimweg von der Schule immer einen großen Umweg, weil Baustellen eine Gefahrenquelle darstellen. Diese Ängste begleiten Petula nicht schon immer, sondern sie sind erst gekommen, als ihre damals 3-jährige Schwester bei einem häuslichen Unfall gestorben ist. Auch ihre Eltern sind seitdem nicht mehr die alten …

In der Schule geht Petula – eher aus Zwang denn aus Freude – zu einer Selbsthilfegruppe, die von einer angehenden Sozialpädagogin geleitet wird. Dort taucht eines Tages ein neuer Junge auf: Jacob, der eine Protesenhand hat. Bei allen Teilnehmer/innen der Gruppe ist Jacob bald sehr beliebt: Er ist kommunikativ, geht auf die anderen zu, schafft es, sie aus der Reserve zu locken. Doch während alle anderen nach und nach über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen, hält Jacob sich bedeckt.

Zu Petula fühlt Jacob sich besonders hingezogen, und Jacob schafft es auch, dass sie sich einiger ihrer Ängste stellt und sie zu bewältigen lernt. Was Petula eigentlich gar nicht für möglich gehalten hätte – nämlich jemandem aus Angst vor Viren und Bakterien näherzukommen –, passiert dann doch: Sie und Jacob sind bald ein Paar. Doch so gut alles beginnt, nach einiger Zeit beginnt es zu kriseln, weil Petula merkt, dass Jacob ein Geheimnis vor ihr hat.

Bewertung:

Also erfrischend schreiben kann Susin Nielsen – das hat die kanadische Autorin schwedischer Herkunft in „Adresse unbekannt“ gezeigt, und „Optimisten sterben früher“ (Übersetzung: Anja Herre; englischer Originaltitel: „Optimists die first“) steht dem keinesfalls nach. Beide Bücher haben ja nicht gerade einfache Themen: Obdachlosigkeit, Armut, traumatische Erlebnisse, Angststörung … Und trotzdem lesen sie sich unterhaltsam, ohne aber die schwierigen Dinge im Leben der Buchfiguren zu bagatellisieren.

Petula und Jacob sind beide zwei vom Leben gebeutelte Jugendliche. Sie haben etwas Schlimmes mitgemacht – bei Petula ist die dreijährige Schwester gestorben, bei Jacob war es ein Freund, der mit ihm im Auto saß. Und beide fühlen sich für das, was passiert ist, verantwortlich (es ist etwas komplexer, aber mehr sei an dieser Stelle nicht verraten). Jacob ist deswegen mit seinen Eltern umgezogen; Petula hat ihre massive Angststörung entwickelt. Und bei beiden haben es auch die Eltern nicht leicht, auch wenn sie das zu überspielen versuchen. Sehr genau wird die Dynamik hinter all dem beschrieben, wenn es zum Beispiel darum geht, welche Auswirkungen der Tod von Petulas Schwester auch auf die Eltern hat.

Neben diesen beiden Hauptfiguren treten im Buch weitere Personen auf – mit Hilfe des Kniffs, dass sie sich in einer schulischen Selbsthilfegruppe treffen, sind es alle Personen, die Traumatisches erlebt haben. Damit gelingt es Susin Nielsen in ihrem Buch fast nur in ihrer Seele verletzte Figuren vorkommen zu lassen (lediglich Petulas Freundin Rachel, mit der sie sich aber zerstritten hat, gehört da nicht dazu). Von der interessanten Dynamik zwischen den Figuren, von ihrem Umgang mit dem, was sie mitgemacht haben, lebt das Buch.

Der Spannungsbogen, der in „Optimisten sterben früher“ aufgezogen wird, ist außergewöhnlich. Gegen Mitte des Buchs scheint sich fast alles in Wohlgefallen aufgelöst zu haben, so dass ich überlegt hatte, ob ich von dieser Heile-Welt-Entwicklung genervt sein soll. Doch es dauerte nur wenige Seiten, da wurde dieser Zwischenfrieden in einem kurzen Kapitel demontiert und auf einmal ist alles in Petulas Leben schlimmer als zuvor. Gekonnt ist das gemacht: Wie Susin Nielsen das Buch angelegt hat und an der richtigen Stelle die Dramatik, kurz bevor es langweilig wird, hochfährt, zeigt ihr Gespür für Dramaturgie.

Das Einzige was in dem Roman meiner Meinung nach nicht so ganz passt, ist, dass er für ein Buch, das ab 14 Jahren empfohlen wird, einen leicht zu kindlichen Erzählton anschlägt. So, wie die Geschichte erzählt wird, könnte sie vom Ton her fast noch als Kinderbuch durchgehen, die Inhalte sind hier und da allerdings dann wiederum nicht kinderbuchtauglich. Ich habe jedenfalls oft im Buch ein deutlich jüngeres Mädchen in Petula vor mir gesehen … Allzu sehr stört das nicht, was daran liegt, dass die Geschichte so sympathisch und unterhaltsam vorgetragen wird.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. In „Optimisten sterben früher“ kommen fast nur Figuren vor, die etwas Traumatisches erlebt haben. Jede Figur geht auf ihre Weise damit um, gemeinsam ist ihnen allen, dass sie es nicht leicht haben. Dadurch dass sie irgendwann beginnen, sich gegenseitig zu stützen, sich zu öffnen, miteinander zu reden über das, was passiert ist, finden sie langsam ins Leben zurück – das geht vielleicht etwas zu schnell, aber man liest ja ein Buch und keinen Wirklichkeitsbericht. Dass Rückschläge dazugehören, zeigt das Buch allerdings auch …

Susin Nielsen zweites ins Deutsche übersetzte Buch ist von Grund auf sympathisch, weil man mit den Figuren mitfühlt und weil die Schwere der Schicksale durch die erfrischende Erzählweise, die aber nicht verharmlosend ist, kongenial ergänzt wird. Es ist alles andere als einfach, von Traumata so zu erzählen … Susin Nielsen kann das jedenfalls hervorragend. „Optimisten sterben früher“ seien jedenfalls viele Leser/innen gewünscht.

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(Ulf Cronenberg, 31.08.2021)


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