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Buchbesprechung: Dirk Reinhardt „Perfect Storm“

Cover: Dirk Reinhardt „Perfect Storm“Lesealter 14+(Gerstenberg-Verlag 2021, 398 Seiten)

Train Kids“, das vor sechs Jahren erschienen ist, war nicht der erste Jugendroman von Dirk Reinhardt, aber das Buch, mit dem ich ihn als Autor kennengelernt habe. Das gut recherchierte Buch über Flüchtlingskinder in Mittelamerika, die in die USA wollen, war nicht nur spannend, sondern hatte ein brisantes Thema. Der folgende Roman „Über die Berge und über das Meer“ schilderte die Flucht von Jugendlichen aus Afghanistan – ebenfalls ein packender und politisch motivierter Roman. In „Perfect Storm“ – das gleich vorweg – geht es um etwas ganz anderes. Computeraffine Leser/innen dürfen sich freuen …

Inhalt:

Über das Online-Computerspiel „Legends of Langloria“ haben sie sich kennengelernt: sechs Jugendliche aus über die Welt verstreuten Ländern. Dylan kommt aus San Francisco, Luisa aus Kolumbien, Felix aus Berlin, Boubacar aus dem Kongo, Kyoko lebt in Tokio und Matthew in Australien. Doch sie vereint nicht nur das Computerspiel, in dem sie als Gilde sehr erfolgreich sind, sondern dass sie alle auch als Hacker unterwegs sind. Als Boubacar davon erzählt, dass sein Vater bei Kämpfen um Coltan-Minen getötet wurde, dass seine Mutter und Schwester vergewaltigt wurden, dass letztendlich amerikanische Firmen für die Bürgerkriegskämpfe verantwortlich sind, wollen die sechs etwas unternehmen.

Sie treffen sich ab sofort in einem geheimen Chatraum und nennen sich Langloria Freedom Fighters – kurz: LFF. Dort reift der Plan, dass sie bei einer amerikanischen Firma namens Hoboken über einen Hackerangriff deren illegale Aktivitäten im Kongo nachweisen wollen. Natürlich gibt Hoboken vor, alle Gesetze zu beachten – an belastende Unterlagen zu gelangen, die das Gegenteil beweisen, das nehmen sich die LFF vor.

Doch in das gut geschützte Netzwerk von Hoboken zu kommen und dort Geheimdokumente abzugreifen, ist alles andere als einfach. Es ist Dylan, der es vor Ort in den USA schafft, sich Zugang zur Firma zu verschaffen, und damit dann Sicherheitsmechanismen aushebeln kann, so dass die Hacker brisantes Material herunterladen können. Doch was die sechs nicht wissen und ahnen, ist, dass ihnen bereits die NSA, der digitale Auslandsgeheimdienst der USA (Wikipedia-Artikel), auf der Spur ist …

Bewertung:

Ich kann mir vorstellen, dass für das Buch so einiges an Recherche-Arbeit notwendig war; das fast 11-seitige Glossar am Ende des Buchs zeigt, wie komplex es ist, sich mit dem Computer-/Hackerjargon vertraut zu machen, ganz zu schweigen von dem technischen Know-how, das man braucht, um das Eindringen in Firmennetzwerke beschreiben zu können. Dirk Reinhardt hat sich da ganz schön reingehängt – aber das kennen wir ja schon von seinen anderen Büchern. Und auch wenn ich in Sachen Computer weder Laie noch Profi bin: Ich habe das meiste zumindest nachvollziehen können.

Wenn man das Buch aufschlägt und ein bisschen durchblättert, sieht man sofort, dass „Perfect Storm“ keine einfach runtererzählte Geschichte ist. Das Buch ist wie ein Geheimdienst-Dossier aufgebaut, dessen Autor ein taufrischer, junger NSA-Mitarbeiter namens Jacob O’Connor ist; ab und zu tritt er auch als Ich-Erzähler auf. Ungewöhnlich ist, dass man nach zehn einleitenden Seiten erst mal auf je zwei bis drei Seiten die Hauptfiguren in sachlichen Personenbeschreibungen präsentiert bekommt. In diesen für die NSA erstellten Dossiers werden den Leser/inne/n die sechs Hacker vorgestellt. Ich habe mich beim Lesen der Profile etwas schwer getan, die sechs zu unterschieden, aber das Problem löst sich beim Weiterlesen schnell …

Neben den wenigen erzählenden Passagen besteht das Buch vor allem aus Chatprotokollen und transkribierten Audioaufnahmen. Ich hatte anfangs Bedenken, ob sich so eine packende Geschichte entfalten kann, aber nach 50 Seiten waren sie hinweggewischt. „Perfect Storm“ erzählt eine wirklich fesselnde Geschichte, die man nicht aus der Hand legen kann, und es ist gerade die Mischung aus verschiedenen Textsorten, die das Buch ausmacht. Hinzu kommt, dass nicht einfach alles chronologisch wiedergegeben wird – im Buch gibt es Rückblenden, es gibt vorausgreifende Andeutungen, die die Spannung erhöhen, weil man schon das Resultat kennt, aber nicht weiß, wie es dazu gekommen ist. Das alles ist raffiniert inszeniert.

Besonders gut ist es Dirk Reinhardt gelungen, die Chat-Protokolle (sie machen den Großteil des Buchs aus) authentisch wiederzugeben. Jede Figur hat ihren eigenen Ton, ihre eigene Persönlichkeit, die sich darin widerspiegelt. Um Beispiele zu nennen: Dylan alias m0$tw4nt3d erweist sich als verbindender Mastermind der Gruppe und ist eher ein verbindlicher Typ; Felix mit seinem Chat-Pseudonym Gödel ist als Asperger-Autist ein extrem rationaler denkender Junge, der Programmiercode wie ein Buch lesen kann; Matthew (Chat-Name ~~Silver~~Surfer~~) ist seit einem Surf-Unfall, wegen dem er im Rollstuhl sitzt, ein ziemlich desillusionierter und stets zynischer Zeitgenosse; und Arrow (Chat-Name <--arrow-->) ist nie verlegen, wenn es darum geht, Matthew mit seinen Chauvisprüchen Contra zu geben. Für Dynamik ist in den Chat-Protokollen also gesorgt. Dass unter den Hackern zwei Mädchen sind, dürfte das reale Geschlechterverhältnis in Hacker-Kreisen nicht abbilden – aber ich finde es gut.

Spannung entfaltet der Roman jedenfalls fast durchgängig, und die ein oder andere unerwartete Wendung trägt maßgeblich dazu bei. Als gegen Ende des Buchs eine weitere Hacker-Figur auftritt, bekommt das Buch noch mal eine ganz neue Ausrichtung – der auftretende Unbekannte ist kein Unbekannter, und auch wenn ich geahnt habe, wer dahinter steckt, der Plot passt auch hier.

Was man kritisieren könnte, ist, dass die Welt im „Perfect Storm“ ein bisschen sehr schwarzweiß konstruiert ist (die Hacker mit den guten Zielen gegen Industrie und NSA mit ihren verschlagenen Absichten); aber ganz von der Hand zu weisen ist eine solche Sicht ja nicht. Es gibt genug Skandale, was vertuschte Waffenlieferungen und Umweltsünden von Konzernen angeht; es gibt Geheimdienste, die sich nicht an Gesetze halten, die Verbrechen begehen und das angeblich zum Schutz des Staats tun. Und es gibt Hacker und Whistleblower, die hehre Ziele haben. Von daher spiegelt das Geschehen in „Perfect Storm“ ja durchaus reale Begebenheiten wider.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Dirk Reinhardt ist auch diesmal ein besonderes Buch gelungen: „Perfekt Storm“ ist ein Jugendroman für computerbegeisterte Jugendliche, für Lesemuffel, die man aber über die Thematik mal zu einem Buch bringen kann. Wie sich darin sechs Jugendliche gegen Konzerne und ihre dunklen Machenschaften wenden, mag ein bisschen übertrieben dargestellt sein, aber es ist mehr als unterhaltsam inszeniert. Und seit Julian Assange und Edward Snowden, um nur die derzeit zwei bekanntesten Geheimdienst-Leaker zu nennen, wissen wir ja, dass bei Konzernen und Geheimdiensten immer wieder so einiges aus dem Ruder läuft.

Vor Büchern wie „Erebos“ oder „Cryptos“ von Ursula Poznanski, die eine ähnliche Zielgruppe haben, braucht sich Dirk Reinhardts Buch absolut nicht verstecken – im Gegenteil, ich finde „Perfect Storm“ (das auch ein gelungenes Cover ziert) von der Figurenzeichnung und vom Erzählstil her noch einen Tick interessanter gestaltet. Man spürt, dass Dirk Reinhardt das Buch mit viel Engagement und Enthusiasmus geschrieben hat, und er hat einen guten Riecher für brisante und Jugendliche interessierende Themen. Ich hoffe jedenfalls auf weitere Jugendromane von Dirk Reinhardt und bin ich gespannt, was als Nächstes folgen wird …

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(Ulf Cronenberg, 10.06.2021)


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