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Buchbesprechung: Véronique Petit „Sechs Leben“

Cover: Véronique Petit „Sechs Leben“Lesealter 12+(Mixtvision-Verlag 2021, 218 Seiten)

Unsterblichkeit – das ist ein Traum, den die Menschen schon lange haben, und er hat meiner Meinung nach viel mit der Angst vor dem Tod und dessen Unvorstellbarkeit zu tun. Wer gläubig ist, hat es damit vielleicht leichter, weil man dann – je nach Religion – an ein Leben nach dem Tod oder an die Wiedergeburt glaubt … Welche Auswirkungen es haben würde, wenn Menschen mehrere Leben hätten, spielt die französische Autorin Véronique Petit in einem Jugendroman durch und legt ein interessant klingendes literarisches Experiment vor.

Inhalt:

Mit 15 Jahren müssen sich alle Jugendlichen einem Bluttest unterziehen, der Aufschluss darüber gibt, wie viele Leben der/die Getestete hat. Bei den meisten Menschen ist es nur ein Leben, zwei Leben kommen ab und zu vor, dass jemand wie Gabriel sechs Leben hat, ist extrem selten. Doch trotz dieser sechs Leben – man stirbt, wacht dann einfach wieder auf und erinnert sich an alles – ist Gabriels Mutter extrem ängstlich und versucht Gabriel von allen Gefahren fernzuhalten.

Das passt ihm jedoch gar nicht, denn Gabriel will sein Leben genießen, Sachen ausprobieren – vor allem das Fallschirmspringen hat es ihm angetan. Doch seine Mutter erlaubt ihm, weil er minderjährig ist, nicht, schon alleine Sprünge zu absolvieren; und das führt dann letztendlich dazu, dass Gabriel zwei Leben verliert: Beim ersten Mal stürzt er sich mit einem Fallschirm von einer Klippe, ein Windstoß lässt ihn jedoch gegen die Felswand prallen. Das zweite Mal setzt er sich über das Verbot der Mutter hinweg und macht nach einigen Tricksereien einen Solosprung, der aber schiefgeht.

Ein drittes Leben verliert Gabriel, indem er einen Mitschüler vor einem herankommenden Auto rettet – das immerhin erfahren seine Eltern, die aber denken, dass er noch fünf statt wie in Wirklichkeit nur noch drei Leben hat. Langsam versteht Gabriel, dass er aufpassen muss und nicht so leichtfertig mit seinen Leben umgehen darf – doch das ist einfacher gesagt als getan …

Bewertung:

Ein interessantes Gedankenspiel hat Véronique Petit in „Sechs Leben“ (Übersetzung: Anne-Kathrin Häfner; französischer Originaltitel: „Vivre ses Vies“) angestellt: Wie würden die Menschen sich verhalten, wenn sie mehrere Leben hätten? Was würde das verändern? Bizarr ist die Situation, weil im Roman-Szenario nur wenige Menschen mehrere Leben haben – und das hat weitreichende Folgen für die Gesellschaft. Der Großteil der Menschen gehört zu den sogenannten Monos, also Menschen mit nur einem Leben. Dass jemand wie Gabriel, die Hauptfigur im Buch, gleich sechsmal sterben kann, bevor er endgültig tot ist, kommt extrem selten vor.

Gabriel, der Ich-Erzähler in dem Roman, entwickelt aus dem Wissen heraus, sechs Leben zu haben, eine große Abenteuerlust – er will etwas erleben und sucht den Nervenkitzel, die Angst geht ihm verloren, weil er weiß, dass er nicht endgültig sterben wird, wenn etwas schiefgeht. Sein Traum ist das freie Fallschirmspringen, und weil seine risikobedachte Mutter es ihm verbietet, geht er lebensgefährliche Wagnisse ein, um ans Ziel zu kommen – und verliert dabei zwei Leben … Angesichts von Gabriels Leichtsinn und Unbedachtheit tauchen beim Leser bzw. der Leserin Fragen auf, die das Buch sehr gekonnt provoziert: Würden sich Jugendliche wirklich so verhalten? Und warum? Hat jemand wie Gabriel außerdem das Recht dazu, sein Leben immer wieder aufs Spiel zu setzen? Gabriels Verhalten ist ja irgendwie doch recht egozentrisch …

(Mich hat die Buchidee übrigens – das sei nur am Rande erwähnt – an eine Begebenheit aus einem anderen Buch erinnert: In Neal Shustermans Band 1 der „Scythe“-Reihe können Menschen nicht mehr sterben; der beste Freund der Hauptfigur Rowan springt aus Langeweile und des Kicks wegen immer wieder von Hochhäusern und knallt auf die Straße – „platschen“ nennt er das –, um dann einige Zeit später wieder im Krankenhaus aufzuwachen.)

„Sechs Leben“ ist ein philosophisches Gedankenspiel in Romanform und spielt in einer Welt, die in vielem unserer gleicht, in der nur manches anders ist: So werden alle Jugendlichen mit mehreren Leben dazu verpflichtet, an psychologischen Selbsthilfegruppen teilzunehmen – und damit wird deutlich, dass es als eine Bürde anzusehen ist, wenn jemand mehrere Leben hat: Es ist nicht so einfach, damit zurechtzukommen. Während die einen vorsichtig darauf achten, ihre Leben nicht zu verschwenden, stellen andere ihre Leben in den Dienst der Gesellschaft und retten Menschen, die in Gefahr sind – auch Gabriel tut das ja einmal. Aber es gibt eben auch einige, die ihre Leben sinnlos verschwenden. Gabriels Mutter, die zwei Leben hat, sieht das zum Beispiel als eine Art Lebensversicherung an, falls ihr etwas zustoßen sollte. Ihr Leben wäre dann nicht zu Ende …

Hineingezogen wird man von Anfang an die Geschichte; Véronique Petits Roman liest sich wie von selbst. Doch er hat bei mir auch immer wieder Fragezeichen hinterlassen. Die Schwäche an diesem Buch ist meiner Meinung nach, dass die Idee mit den sechs Leben zu sehr auf die Spitze getrieben und sie damit überstrapaziert wird. Der Roman wirkt hier und da zu stark konstruiert, und was daraus resultiert, ist, dass Gabriel als Figur nicht so ganz glaubhaft rüberkommt. Ist es wirklich plausibel, dass Gabriel kein Maß kennt und uneinsichtig ein Leben nach dem anderen riskiert? Die Story hat zudem kleine Kratzer: Die ein oder andere Buchbegebenheit (z. B. wie Gabriel sich den Solosprung ergaunert) wirkt schon sehr aufgesetzt.

Eine interessante Nuance steckt allerdings noch in dem Roman: Eher angedeutet als explizit ausgeführt wird, dass in anderen Ländern Kinder und Jugendliche mit mehreren Leben ausgenutzt und ausgebeutet werden – da wird der Roman am Rande sogar politisch. Ein Junge in Gabriels Selbsthilfegruppe hat Traumatisches erlebt, und was man sich anfangs zusammenreimen muss, wird irgendwann Gewissheit: Jugendliche mit mehreren Leben werden in Bürgerkriegsgebieten als Kindersoldaten eingesetzt.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Ich mag Bücher, denen ungewöhnliche Ideen zugrundeliegen – Véronique Petits „Sechs Leben“ reiht sich da gut in außergewöhnliche Jugendromanideen wie in David Levithans „Letztendlich sind wir dem Universum egal“ oder in die oben schon erwähnte „Scythe“-Reihe von Neal Shusterman ein. Das Roman-Gedankenspiel, wie sich das Leben von Menschen verändern würde, wenn sie mehrere Leben hätten, wird mit Tempo erzählt. Gestört hat mich jedoch, dass das Buch hier und da überkonstruiert wirkt.

Wie schon in der Einleitung geschrieben, greift „Sechs Leben“ ein Urtopos des Menschen auf: den Traum vom längeren oder gar unsterblichen Leben … Was man am Ende des Romans in Ansätzen verstanden hat, ist, dass es nicht unbedingt ein Segen wäre, mehrere Leben zu haben, sondern mitunter eine Hypothek. So verständlich der Wunsch danach ist, so gut ist es vielleicht, dass es nicht so ist – schon gar nicht, wenn die Anzahl der Leben unter den Menschen ungleich verteilt wären …

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(Ulf Cronenberg, 03.06.2021)

Lektüretipp für Lehrer!

Da „Sechs Leben“ viele Anregungen zu moralischen und philosophischen Fragestellungen gibt, würde ich das Buch eher im Ethik- als im Deutschunterricht einsetzen – und da ab der 8. Jahrgangsstufe. Hier kann man mit spannenden Diskussionen rechnen, denn das Buch thematisiert vieles und stellt Fragen, wie zum Beispiel: Warum sind Jugendliche oft leichtsinnig? Was bedeutet der Tod für das Leben? Welchen Sinn soll man seinem Leben geben? Schülerinnen und Schüler könnte man mit dem Buch jedenfalls zum Nachdenken bringen, und ich bin davon überzeugt, dass sie das Buch durchaus mögen werden.

Kommentar (1)

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