(Rowohlt rotfuchs 2021, 309 Seiten)
2018 ist der britische Autor Philip Kerr, der vor allem Erwachsenen-Thriller, aber auch einige Jugendromane geschrieben hat, gestorben. „1984.4“ ist somit posthum erschienen, und Grundlage ist ein Manuskript, das er 2015 verfasst hat, das aber damals nicht veröffentlicht wurde. Christiane Steen, Programmleiterin beim Rowohlt-Verlag, hat es nun aus der Schublade gezogen und das Buch herausgegeben. Der Titel „1984.4“ erinnert nicht zufällig an Georg Orwells Roman „1984“ – Philip Kerr schildert in seinem Buch eine parallele Zukunftsvision, die sich in manchem an das Vorbild anlehnt, aber auch einiges anders macht.
Inhalt:
Florence ist 16 Jahre alt, und nur wenige Jugendliche werden in dem Alter für eine Tätigkeit ausgebildet, die erfordert, dass man nicht zu viel Mitgefühl hat: Das Mädchen ist Mitglied des Senioren-Service – das heißt nicht, dass sie sich um ältere Menschen kümmert, sondern mit ihren Kolleg/inn/en soll sie Senioren aufspüren, die sich dem vorgegebenen Todesdatum entziehen und auf der Flucht sind. Es ist nämlich vorgeschrieben, dass sich alle Menschen Tests unterziehen, und wenn sich dabei eine leichte Einschränkung ihrer Fähigkeit zeigt, wird ihr Todesdatum in den nächsten Monaten oder Jahren festgelegt.
Bewaffnet ist Florence mit ihrer Crew unterwegs, wenn es Hinweise auf flüchtige Senioren gibt – eine gründliche Kampfausbildung haben sie vorher absolviert. Beim Senioren-Service tätig zu sein, ist keine ungefährliche Aufgabe, denn einige der Senioren wehren sich mit üblen Tricks und scheuen sich auch nicht, dabei Waffen einzusetzen. Florence ist in ihrem Job jedoch gut und steigt langsam auf.
Doch dann passieren mehrere Dinge, die in ihr zunehmend Zweifel an dem Sinn ihrer Tätigkeit aufkommen lassen. Zum einen bekommt ihre noch gar nicht alte Mutter ihr Todesdatum genannt, weil sie bei einem Test deutliche geistige Aussetzer gezeigt hat. Zum anderen kommt sie durch Zufall auf der Jagd nach flüchtigen Senioren Eric kennen. Beide sind sofort voneinander fasziniert. Eric ist so anders als alle Menschen, die Florence kennt: voller Mitgefühl. Und er sieht das gesellschaftliche System, in dem sie leben und das Florence bisher als sinnvoll angesehen hat, kritisch. Florence fängt selbst an, über vieles, was bisher für sie selbstverständlich war, nachzudenken …
Bewertung:
Ich konnte Dystopien schon immer viel abgewinnen und finde sie ein interessantes Genre; denn sie zeigen problematische Entwicklungen unserer Gesellschaft auf und treiben sie oft auf die Spitze. Was Philip Kerr in „1984.4“ (Übersetzung aus dem Englischen: Uwe-Michael Gutzschhahn) als Thema aufgreift, ist vor allem die Überwachung durch den Staat. Im Szenario des Buchs müssen alle Menschen ein so genanntes Wristpad um das Handgelenk tragen – ein Gerät, das nicht nur Informationsmedium ist, sondern ständig aufzeichnet und überwacht, was die Menschen tun. Das Ablegen des Wristpads ist strengstens verboten.
Die Welt in „1984.4“ ist ein düsterer und wenig freier Ort: Die Versorgungslage für die Menschheit ist prekär, die Ressourcen sind knapp. Es gibt so gut wie keine Bücher mehr, Schreiben mit der Hand ist verpönt und wird nicht gerne gesehen. Wer etwas gegen den Staat sagt, ist schnell aufgespürt und wird hingerichtet oder in ein Internierungslager abgeschoben. Die Sprache enthält viele Begriffe – ganz im Sinne des Neusprech aus Georg Orwells „1984“ –, die vieles verharmlosen: Altenversorger werden die Mitglieder des Senioren-Service genannt – beides hocheupemistische Wörter für eine Tätigkeit, bei der es darum geht, alte Menschen zu jagen und zu töten, wenn sie weiterleben wollen. Das Töten heißt dementsprechend auch „docken“. (Am Ende des Buchs befindet sich übrigens ein Glossar, das den verharmlosenden Jargon der Senioren-Service-Mitarbeiter erläutert.)
Die Grundidee von „1984.4“, dass ältere Menschen nur so lange leben dürfen, wie sie für die Gesellschaft nützlich sind, bietet zunächst mal einen gelungenen dystopischen Rahmen – doch die Geschichte, die aus der Sicht von Florence erzählt wird, kommt nicht so richtig in Fahrt. Ja, sie plätschert ziemlich lange so vor sich hin, hat wenige Höhepunkte. Das ändert sich zwischendrin mal kurz, als bei einem Einsatz Florence‘ Gruppenleiter Aaron, den sie bewundert, getötet wird. Der dringend nötige Umschwung im Roman kommt dann aber erst in der Mitte des Buchs, als Florence nach einem Einsatz, den sie knapp überlebt, Eric kennenlernt.
Die Begeisterung angesichts dieser Wendung, die sich kurz bei mir eingestellt hat, hat allerdings nicht lange gehalten, und das liegt daran, dass die Liebesgeschichte zwischen Eric und Florence ziemlich schmalzig inszeniert wird: Die wiederkehrenden Liebesbeteuerungen zwischen den beiden sind kaum auszuhalten. Die Anziehung, die zwischen den beiden vom ersten Moment an da ist, ist damit einfach nur unglaubwürdig: auf der einen Seite das skrupellose Mädchen, dessen Job es ist, alte Menschen zu töten, auf der anderen Seite der schöngeistige und desillusionierte junge Mann. Und dazwischen fragwürdige Liebesschwüre.
Somit ist auch die Veränderung bei Florence von der ehrgeizigen Mitarbeiterin im Senioren-Service hin zu einer kritisch dem Staat gegenüberstehenden Person nicht glaubwürdig – das hebelt letztendlich die guten Ansätze im Buch aus. Man nimmt Florence nicht ab, dass sie auf einmal Revolutionärin sein will. Überhaupt, in „1984.4“ ist vieles zu schwarzweiß, zu stereotyp – die Figuren zum Beispiel sind holzschnitzartig gezeichnet. Und fragwürdig ist schließlich auch das Ende des Romans, das viel zu abrupt kommt und den Leser mit der Frage hängen lässt, was aus Florence und ihrer Revolution wird. Da wäre es ja erst wirklich spannend geworden …
Fazit:
2 von 5 Punkten. Dass „1984.4“ längere Zeit als Manuskript in einer Schublade lag, hatte wohl seinen Grund. Das Buch ist ein roher Entwurf, der zu viele Schwächen hat, als dass er als gutes Buch durchgehen kann. Vieles ist unausgegoren. Man hätte aus der Grundidee für das Buch einiges machen können, aber dazu hätte es gründlich und nicht nur in Kleinigkeiten überarbeitet werden müssen. Der Spannungsbogen des Romans ist fahrig, viel zu oft tritt die Geschichte auf der Stelle, und das Ende ist lieblos. Hinzu kommen wenig glaubwürdige Figuren und eine Liebesgeschichte, die kaum zu ertragen ist.
Das tut insofern alles etwas weh, weil man Philip Kerr eigentlich als einen Autor kennt, der packende Thriller geschrieben hat. „1984.4“ kann da in keiner Weise mithalten. Das fällt vor allem auch auf, weil man angesichts des Titels natürlich Parallelen zu George Orwells „1984“ zieht – Philip Kerr hat es mit einigen Reminiszenzen an das Original auch darauf angelegt (Winston ist übrigens in „1984.4“ anders als in „1984“ nicht die Hauptfigur des Romans, sondern ist die Personifikation des Big Brother). Und im Vergleich zu Orwells Werk kommt Philip Kerrs Buch schlichtweg schlecht weg. Schade, das Buch hätte mehr sein können …
(Ulf Cronenberg, 01.05.2021)
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