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Buchbesprechung: Kirsten Boie „Dunkelnacht“

Cover: Kirsten Boie „Dunkelnacht“Lesealter 15+(Oetinger-Verlag 2021, 111 Seiten)

Kann es denn sein, dass ich hier noch nie ein Buch von Kirsten Boie besprochen habe? Ja, es stimmt – gelesen habe ich jedoch einige. Da die Hamburger Autorin viele Kinderbücher schreibt, sind sie mir vor allem beim Vorlesen für meine Tochter begegnet. Und bevor es Jugendbuchtipps.de gab, hat mich „Nicht Chicago, nicht hier“ beeindruckt und nachdenklich zurückgelassen – ein Klassiker der Jugendliteratur über Mobbing. Mit „Dunkelnacht“ hat Kirsten Boie eine düstere Begebenheit, die am Ende des Zweiten Weltkriegs wirklich passiert ist, aufgegriffen – damit nicht vergessen wird, was damals für schlimme Dinge geschehen sind …

Penzberg, die letzten Tage des Aprils 1945. Das Ende des Dritten Reiches steht bevor. Das darf man aber nach wie vor nur hinter vorgehaltener Hand äußern – und selbst da ist Vorsicht geboten. Fast jeder weiß, dass die Amerikaner kurz vor München stehen, dass die Deutschen bald besiegt sein werden; doch es gibt nach wie vor Nationalsozialisten, die bis zum letzten Mann kämpfen wollen und auch den Befehl dazu haben … Als der nationalsozialistische Münchner Reichssender von einer Freiheitsaktion Bayern besetzt wird und die Bevölkerung aufgerufen wird, sich zu ergeben und den Nationalsozialisten etwas entgegenzusetzen, fassen mehrere Männer in Penzberg, die 12 Jahre nichts zu sagen hatten, Mut.

Um den früheren sozialdemokratischen Bürgermeister Hans Rummer formieren sie sich, betreten das Rathaus und fordern den NSDAP-Bürgermeister Vonwerden auf, sein Amt niederzulegen – sie sichern ihm sicheres Geleit zu, wollen, dass alles friedlich vonstatten geht. Doch das Wiedererlangen der Macht hält nicht lange: Eine Wehrmachtkompanie auf dem Weg zur Alpensiedlung bekommt davon Wind, und auch wenn dessen Hauptmann Bentrott nicht eigenmächtig handeln will – von seinem Vorgesetzten Oberstleutnant Ohm, den er aufsucht, bekommt er den Befehl, die Aufständischen im Rathaus gefangenzunehmen und hinzurichten. So werden die Männer schließlich am Stadtrand erschossen; doch damit nicht genug. Weitere Bürger, die früher den Sozialdemokraten und Kommunisten nahestanden, werden von einer Werwolf-Einheit der Nazis, die das Reich verteidigen will, aufgespürt, und in der dunklen Nacht werden viele von ihnen ohne Gerichtsverfahren erhängt.

Damit ist der geschichtliche Rahmen von Kirsten Boies Novelle skizziert, den sie möglichst genau abzubilden versucht hat – das hat sich wirklich, von ausschmückenden Details abgesehen, so zugetragen. Um die schlimmen Geschehnisse für Jugendliche erfahrbar zu machen, sind dem Buch jedoch drei fiktive Figuren hinzugefügt worden: Marie ist die Tochter eines der nachts gesuchten Nationalsozialisten-Gegner; Schorsch, der in Marie verliebt ist, ist der Sohn des Polizeimeisters Lahner; und Gustl schließlich hat sich der nationalsozialistischen Werwolf-Jagdgruppe angeschlossen – um die Schande seiner Eltern wiedergutzumachen, kämpft er seinem Werwolf-Rudel erbittert weiter und verfolgt diejenigen, die sich ergeben wollen.

„Dunkelnacht“ erinnert in Aufbau und Erzählweise in vielem an ein szenisches Theaterstück: Es ist sparsam, fast wortkarg geschrieben, wird aufs Nötige reduziert und in kurzen Episoden erzählt; und jeder Episode – auch das kennt man von Theaterstücken – sind die jeweils darin vorkommenden Figuren vorangestellt: „Marie, Schorsch“ steht dort zum Beispiel. Als ziemlich elaboriert könnte man die Art des Erzählens bezeichnen: Der Roman ist keine Ich-Erzählung, sondern wird auktorial in der Er-Form, also mit Blick ins Innere der Figuren erzählt:

„Marie lehnt in der Tür. Weiße Bettücher!, denkt sie. Aus dem Fenster hängen!
Wie die Amerikaner wohl sein werden? Es soll sogar Schwarze geben unter ihren Soldaten! Was werden sie machen mit ihnen allen hier in Penzberg, werden sie alle erschießen, wenn ihre Panzer einrollen, oder nur einige? Wen werden sie erschießen, erhängen, nur alle Gefolgsleute des Führers? Sind ja nicht so viele in ihrer roten Stadt wie anderswo, aber sind immer noch genug, müssen sie alle jetzt büßen? Und was ist mit den Jungen, HJ und BDM, mit ihr – und Schorsch?“

Die sprachliche Verdichtung, das schlaglichtartige Erzählen lässt keinen richtigen Lesefluss aufkommen – aber das würde auch nicht zum Thema passen. Durch die vielen Lücken, durch das Karge wird allerdings – so könnte man das sehen – mehr gesagt, als wenn die Novelle ins Epische abgedriftet wäre. Als Marie und Schorsch zum Beispiel Zeugen des Erschießens werden, wird nichts ausgeschmückt – nur knapp wird skizziert, dass sie Angst haben, insbesondere auch, selbst entdeckt zu werden; und später, als Schorsch beobachtet, wie Stadtbewohner erhängt werden, wird nur dargestellt, dass sich ihm der Magen umdreht, dass er spuckt und würgt, bis er nur noch Gallengeschmack im Mund hat – die Gefühle kann und muss man sich als Leser/in selbst erschließen. Durch diese Wort- und Gefühlskargheit des Textes wird das Bedrohliche und Dunkle dessen, was geschieht, unterstrichen.

Was Kirsten Boie dazu gebracht hat, die Mordnacht in Penzburg zu einem Buch zu machen, wird im Nachwort erläutert: Für die Autorin ist es unfassbar, dass es heute noch Leute gibt, die das Dritte Reich verharmlosen und als gute Zeit heroisieren, dass rechte Gesinnungen wieder aufleben und rechtsnationale Gruppierungen Zulauf finden. Aber noch etwas anderes will das Buch verdeutlichen: Niemand von den Personen, die damals in Penzberg für die Gräueltaten verantwortlich waren – seien es die Befehlshaber oder die Ausführenden –, wurde am Ende in Gerichtsprozessen und Revisionen verurteilt und bestraft. Weil Richterposten in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg zunehmend wieder von alten Nazis besetzt wurden, legten diese über viele nationalsozialistische Täter ihre schützende Hand. Das führte dazu, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Nationalsozialismus nicht wirklich aufgearbeitet wurde, und die Folgen davon reichen bis ins Heute …

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Dunkelnacht“ ist als Buch für jugendliche Leser/innen alles andere als zugänglich: Es ist sperrig, es ist düster, aber dafür ziemlich eindrücklich erzählt (auch wenn „Woyzeck“ von Georg Büchner ein Dramenfragment ist, ich musste beim Lesen von „Dunkelnacht“ trotzdem oft an Büchners Werk denken). Meiner Ansicht nach hat Kirsten Boie eine passende Sprache für die Vorfälle in Penzberg gefunden: weil man die Gräueltaten nicht angemessen in viele Worte packen kann, hat sie sich für ein episodenhaftes und kantiges Erzählen entschieden. Eine kluge Entscheidung, weil die Verdichtung dem Leser bzw. der Leserin Raum für eigene Schreckensbilder lässt – man bekommt sie nur im Maßen aufgedrängt, den Rest kann man sich den eigenen Schmerzgrenzen angemessen selbst ausmalen.

Dass Kirsten Boie aus dem Vorfall in Penzberg, von dem sie auch erst vor nicht allzu langer Zeit erfahren hat, ein Buch gemacht hat, kann man nicht genug würdigen. Es gibt viele Jugendromane über das Dritte Reich (in den letzten 10 Jahren sind vielleicht weniger neue als früher dazugekommen), aber „Dunkelnacht“ ist, weil es die Düsternis der Zeit sprachlich so erfahrbar erzählt, ein besonders beeindruckendes Buch. Es ist zu hoffen, dass durch Kisten Boies Buch die Vorgänge in Penzberg um ein gutes Dutzend Männer, die ihren großen Mut mit dem Leben bezahlen mussten, hoffentlich lange nicht vergessen werden.

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(Ulf Cronenberg, 16.04.2021)

Lektüretipp für Lehrer!

Wenn man „Dunkelnacht“ als Schullektüre vorschlägt, sollte man gleich Warnhinweise folgen lassen: Das ist kein Buch, das Jugendliche (frühestens ab Jahrgangsstufe 9 oder vielleicht sogar 10, würde ich sagen) per se gut finden werden. Die Gründe dafür wurden oben aufgezählt. Als Lektüre kann das Buch meiner Meinung nach nur funktionieren, wenn man es gemeinsam erliest, wenn man dem Text und Diskussionen darüber Raum lässt, wenn man die Lektüre in ein Projekt über das Dritte Reich einbettet und die Schüler/innen über den geschichtlichen Kontext (die Grundzüge sind ja wirklich so passiert) Zugang finden lässt. Material über die Vorgänge in Penzberg und den Bürgermeister Hans Rummel findet man im Internet. Wenn es gelingt, so das Interesse der Schüler/innen zu wecken, ist „Dunkelnacht“ ohne Zweifel eine Lektüre, die es sich lohnt, mit Schüler/innen zu lesen. Andernfalls wäre das vertane Zeit … – und eine vertane Chance.

Kommentar (1)

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