(Carlsen-Verlag 2020, 263 Seiten)
Wenn man weiß, dass es in einem Buch um Mobbing geht (und das war bei mir so, mehr war mir aber nicht bekannt), dann stellt man sich bei dem Titel alles Mögliche vor … Der Titel ist aber schnell erklärt, und wer die Inhaltszusammenfassung liest, weiß Bescheid. „Das Jahr in der Box“ ist Michael Siebens zweiter Jugendroman – für den ersten mit dem Titel „Ponderosa“ (ich habe ihn leider nicht gelesen) hat er auf Anhieb das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium erhalten, mit dem junge Talente gefördert werden.
Inhalt:
Es ist noch nicht so lange her, da ist Paul mit seiner Mutter aus Berlin nach Wicken, einem kleinen Städtchen, dessen Einwohner vor allem von einer großen Brauerei vor Ort leben, gezogen. Dort haben sie die Villa des gestorbenen Großvaters übernommen. Doch nun ziehen die beiden wieder um – in eine kleinere Wohnung, die auch in Wicken liegt. Weil Paul gerade dabei ist, seine Sachen in Kisten zu packen, kramt er auch in seiner Erinnerungskiste herum, und dabei lebt in ihm das ganze vergangene Jahr – das für ihn das bisher schwierigste in seinem Leben war – wieder auf:
Der Umzug nach Wicken hat ihm auf vielfältige Art und Weise den Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht nur, dass Paul Berlin und seine Freunde dort vermisst, sondern in seiner Klasse hat er von Beginn an keinen guten Stand. Vor allem Wieland und dessen Freund Glotz haben es auf Paul abgesehen und spielen ihm übel mit, wo immer es geht. Bald hat er deswegen auch seinen Spitznamen weg – eine von Wielands zahllosen Mobbing-Attacken: Porno-Paul wird er von vielen genannt, weil Wieland ein YouTube-Video gefunden hat, auf dem angeblich Paul mit einer Straßenprostituierten zu sehen ist. Das Video macht in der Schule die Runde.
Immerhin, zwei Kumpel hat Paul in Wicken gefunden, die allerdings selbst Außenseiter sind: Während Ken klein und schmächtig ist, ist Mehmet stark übergewichtig und hängt die ganze Zeit vor einem Computerspiel. Doch auch zu dritt können sie nichts gegen Wieland und seine Clique ausrichten – hinzu kommt, dass Wieland nicht nur gut aussieht und beliebt ist, sondern auch noch Sohn des Brauereibesitzers ist, der der Schule immer wieder große Summen spendet. Wieland ist somit unantastbar – auch wenn er es immer schlimmer treibt.
Bewertung:
Mit Mobbing hat Michael Sieben in „Das Jahr in der Box“ ein häufig in der Jugendliteratur vorkommendes Thema aufgegriffen. Recht genau wird geschildert, wie Ich-Erzähler Paul von Wieland und seinen Schergen drangsaliert und schikaniert wird – mit ziemlich üblen und fiesen Methoden. Ihm wird zum Beispiel von Wielands Freund Glotz eine Sonnenbrille, die für Paul eine besondere Bedeutung als Erinnerungsstück an einen Freund aus Berlin hat, weggenommen; und Glotz trägt sie dann demonstrativ immer wieder, wenn er Paul begegnet. Paul ist wehrlos, kann nichts tun.
Das Mobbing hat mich allerdings anfangs – und ich bin mir nicht so ganz sicher, warum – nicht so ganz berührt und getroffen. Vielleicht liegt es daran, dass manches etwas überzogen ist: Dass es ausgerechnet der Sohn des ortsansässigen Hauptarbeitgeber sein muss, der hier so fies mobbt, das war mir ein bisschen zu dick aufgetragen – auch wenn das nur ein Detail ist. Und gestört hat mich auch (mal wieder), dass die Schule so gar nicht auf das Mobbing reagiert, Paul auch keine Hilfe sucht. Aber vermutlich ist das so realer, als ich es mir einzugestehen vermag.
Doch dann passiert in dem Buch nach einem Viertel etwas, das mich endlich in die Geschichte hineingezogen hat. Paul beobachtet, wie nachts ein Mädchen das Auto des Nachbarn, des berüchtigten Brauerei-Geschäftsführers, mit Spraydosen bearbeitet. Eine Racheakt, wie Paul später erfährt, weil u. a. die Mutter des Mädchens ihren Job in der Brauerei verloren hat. Paul folgt dem Mädchen nämlich und lernt Mara kennen, von der er sofort fasziniert ist. Was daraus entsteht, ist eine eher tragische Liebesgeschichte, die dem Buch allerdings gut tut.
Was Michael Sieben sehr geschickt macht, ist, wie er die Geschichte aufbaut. Die Rahmenhandlung besteht aus Pauls Durchsehen der Erinnerungskiste; verschiedene Gegenstände erinnern ihn immer wieder an Ereignisse aus dem letzten Jahr, die er dann im folgenden Kapitel erzählt. So wechseln sich Kapitel aus der Gegenwart des Umzugs mit Kapiteln aus der Vergangenheit ab. Und schon bald wird klar, dass in der Vergangenheit etwas geschehen ist, was Paul von sich fernzuhalten versucht. Ein Freund namens Marko, der seltsamerweise in dem Buch nur in Bezug auf den Tod erwähnt wird, ist – und Paul war dabei – ums Leben gekommen. Ein Suizid? Ein Unfall? Man weiß es nicht so genau und erfährt erst am Ende, um wen es geht und was genau passiert ist.
Mal abgesehen vom etwas holzschnittartig angelegten Wieland, dem Mobbing-Täter, ist ein großes Plus des Romans, wie die Figuren gezeichnet sind. Das gilt für die Hauptfiguren (neben Paul vor allem Ken und Mehmet, aber auch Mara) wie für die Randfiguren. (Was Wieland angehen, könnte man aber anführen, dass es sich ja um eine Ich-Erzählung handelt, und dass es von daher logisch ist, dass Paul Wieland weder gut kennt noch ausgewogen beschreibt …) Interessant ist auch die Figur von Pauls Mutter Bille: eine Ärztin, die es mit den Männern nicht auf die Reihe kriegt, aber später im Roman Rückgrat beweist. Die Figuren sind jedenfalls vielschichtig angelegt, sie haben eine Natürlichkeit, die das Buch authentisch wirken lassen.
Was das Buch letztendlich erzählt, ist auch, wie ein Jugendlicher über ein traumatisierendes Ereignis, den Tod eines Freundes, hinwegzukommen versucht. Lange schiebt Paul alle Gedanken an den Tod, den er miterlebt hat, weg, bis er sich irgendwann seinen schmerzhaften Erinnerungen stellt. Und das ist dann auch der Punkt, an dem Pauls Leben wieder in normale Bahnen kommen kann …
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Michael Siebens „Das Jahr in der Box“ hat mich nicht von der ersten Seite fasziniert, doch mit der oben erwähnten Szene nach 60 Seiten hat der Autor mich dann doch gehabt. Es ist das, was ich an Jugendbüchern schätze: Wenn sie mich irgendwann nicht mehr loslassen. Die Szene, von der ich spreche, als Mara des Nachbars Auto verunstaltet, hat ein bisschen was von John Greens „Margos Spuren“, wo Margo am Anfang einen Rachfeldzug (mit dem Ich-Erzähler des Romans) startet – weil sie so temporeich erzählt wird, eine meiner Lieblingsszenen in Jugendromanen … Die Ähnlichkeit (sicher keine Absicht) ist mir beim Lesen gar nicht aufgefallen, sondern erst hier beim Schreiben der Buchbesprechung.
Michael Sieben ist ein guter Erzähler: Seine Figuren werden lebensnah dargestellt werden – mit Ecken und Kanten, mit Problemen und gefangen in Zwickmühlen. Und die Geschichte spannt geschickt ihren Spannungsbogen – ganz kleine Hänger gibt es mal hier und da, die aber nicht wirklich ins Gewicht fallen. Wer der zu Tode gekommene Marko ist? Ich habe es schon einige Zeit vor der Auflösung geahnt … Des Rätsels Auflösung ist stimmig und gekonnt arrangiert. „Das Jahr in der Box“ ist ein sympathisches und durchdachtes Buch, das man gerne liest, das nicht nur mich, sondern auch Jugendliche bei der Stange halten dürfte.
(Ulf Cronenberg, 26.12.2020)
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