(Fischer Kinder- und Jugendbuch 2020, 250 Seiten)
Die Bücher des Iren John Boyne, die ich bisher gelesen habe, haben mir alle gefallen. Es sind einfühlsame und im positiven Sinn eigenwillige Geschichten, die er erzählt; oft geht es darin um Kinder oder Jugendliche, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und durchs Leben schlagen müssen. Das trifft letztendlich auch auf John Boynes neuen Jugendroman zu; angesichts des Titels weiß man auch gleich, wovon er handelt: Es geht um einen Jungen, der das Gefühlt hat, eigentlich ein Mädchen zu sein.
Inhalt:
Der 13-jährige Sam und sein älterer Bruder Jason sind Söhne einer britischen Ministerin, die Ambitionen auf den Premierministerposten hat. Das Leben in der Familie ist in vielem von der Politik bestimmt, die beiden Kindern haben es da manchmal nicht ganz leicht. Sam leidet zum Beispiel unter Dyslexie und tut sich schwer mit dem Lesen. Jason, seinen großen Bruder, bewundert Sam sehr – Jason kümmert sich auch viel um seinen Bruder, er ist außerdem ein begnadeter und an der Schule beliebter Fußballer.
Doch als Jason seinen Eltern und Sam gesteht, dass er sich schon lange als Mädchen fühlt, das aber bisher unterdrückt hat, ist nichts mehr wie zuvor. Sam will in Jason weiterhin seinen großen Bruder sehen und kann irgendwie gar nicht nachvollziehen, was in Jason vorgeht; die Eltern glauben, dass Jason nur eine Pubertätskrise durchmacht und schleppen ihn zu einem Psychotherapeuten. Doch dort trifft eher Jason auf Verständnis, als dass den Eltern mit ihrem Wunsch, dass Jason wieder normal wird, geholfen wird.
Jasons Eltern tun alles, um das Transgender-Thema zu verheimlichen und nicht publik werden zu lassen. Zu sehr fürchten sie den Schaden, den die politische Karriere von Jasons Mutter dadurch nehmen könnte. Jason bleibt dabei auf der Strecke, er leidet sehr darunter, dass seine Eltern ihm nicht zuhören und ihn unterstützen wollen. Als Weihnachten vor der Tür steht, hält Jason es nicht mehr aus. Er flieht vor dem Familienfest zur Schwester seiner Mutter, die ein recht ungewöhnliches Leben führt. Für Jasons Mutter ist das eine Provokation – doch Jason geht es dort deutlich besser. Sam dagegen findet es schlimm, dass sein Bruder nicht mehr da ist. Er will ihn einfach nur zurück haben …
Bewertung:
John Boyne hat wegen seiner bisherigen Bücher einen großen Vertrauensvorschuss bei mir, und so habe ich mich auf seinen neuen Jugendroman gefreut, auch wenn ich ein bisschen irritiert war, dass er anders als sonst ein In-Thema für sein Buch gewählt hat. „Mein Bruder heißt Jessica“ (Übersetzung: Adelheid Zöfel; englischer Originaltitel: „My Brother’s Name is Jessica“) ist einerseits ein geschickt gewählter Titel, der gleich vermittelt, worum es geht, er ist andererseits aber auch sehr plakativ und kommt fast etwas platt rüber.
Irritiert war ich dann aber vor allem von den ersten Kapiteln. Was ich nicht verstanden habe (und bis jetzt nicht verstehe), ist, warum John Boyne die Geschichte in einer Familie ansiedelt, bei der die Mutter eine britische Ministerin ist. Was hat ihn da eigentlich geritten? Das ganze Buch über kann man die Familiensituation eigentlich nicht ernst nehmen. Es wäre ja noch in Ordnung gewesen, wenn es sich um eine Abgeordnete gehandelt hätte, die in der Öffentlichkeit steht – aber musste es eine Ministerin sein, die als künftige Premierministerin gehandelt wird? Vieles, was da drumherum inszeniert wird, wirkt unglaubwürdig und stereotyp. Das geht von der naiven Darstellung des politischen Denkens in der Familie, über die Stellung der Kinder als Ministerkinder in der Schule (Sam wird massiv gemobbt) bis hin zu der sehr schablonenhaft gezeichneten innerfamiliären Kommunikation.
Dass das Buch auch anderes zu bieten hat, wird erst kurz vor der Mitte des Romans deutlich. Es ist die Familiensitzung bei einem Psychotherapeuten, durch die das erste Mal eine angemessene Ernsthaftigkeit in die Geschichte gebracht wird. Es folgt etwas später ein Gespräch zwischen Sam und Jason, in dem auch endlich tiefer in die Gefühle und Sorgen eines Jungen geguckt wird, der sich von Kindheit an als Mädchen fühlt. Warum man darauf so lange warten muss? Ich weiß es nicht – vorher gibt es deutlich zu viel Geplänkel in dem Roman, was mit der ungewöhnlichen Familiensituation zusammenhängt.
Der zweite gelungene Abschnitt folgt noch mal später im Buch, als Jason kurz vor Weihnachten zu Tante Rose geflüchtet ist. Sam besucht dort auf Einladung seiner Tante seinen Bruder, der sich bei der Tante offen als Jessica geben darf, Mädchenkleider anzieht und schminkt. Wie die Tante mit Jason/Jessica umgeht, wie sie die Offenheit an den Tag legt, die Jason gerne bei seinen Eltern gehabt hätte, zeigt, dass es auch anders geht – dem Buch tut das gut, weil es eine Perspektive aufzeigt.
Die Mitte von John Boynes Roman ist somit dessen Highlight, weil hier das, was in den Figuren vorgeht, durchschimmern darf, während die Geschichte am Anfang und am Schluss immer wieder in oberflächlichen Slapstick abdriftet. Und das Ende? Hier schlägt dann wieder die Falle zu, die John Boyne mit der Familie, in der er seine Geschichtet verortet, selbst aufgestellt hat. Man kann dieses Ende jedenfalls nicht ernst nehmen, es wirkt, als wäre es einer englischen Kinokomödie entsprungen, die ein Happy End braucht. Ich hatte dabei, ehrlich gesagt, auch einen ganz konkreten Film im Auge: „Tatsächlich … Liebe“ (engl. „Love Actually“), einen Familienfilm, in dem es u. a. auch um einen fiktiven britischen Premierminister geht. Der Ernsthaftigkeit des Themas angemessen ist das Ende des Buchs jedenfalls nicht, wenn sich alles in Wohlgefälligkeit auflöst.
Fazit:
2-einhalb von 5 Punkten. So ehrenvoll die Idee ist, das Thema Transgender in einem Jugendbuch aufzugreifen und so für Verständnis für Betroffene zu werben – „Mein Bruder heißt Jessica“ ist das am wenigsten gelungene Buch, das ich von John Boyne bisher gelesen habe. Warum er Jasons Mutter ausgerechnet Ministerin mit Ehrgeiz auf den Premierministerposten sein lassen musste, erschließt sich mir überhaupt nicht. Das kann nur dazu führen, dass ein Buch in Klischees abdriftet, und genau das tut „Mein Bruder heißt Jessica“ phasenweise auch. Natürlich haben Jasons Eltern Probleme damit, dass ihr Sohn sich als Mädchen fühlt, aber weil das durch das politische Amt der Mutter eine besondere Bedeutung bekommt, werden viel zu wenig die wirklichen Konflikte beleuchtet und stattdessen künstliche Probleme konstruiert. Was dem Buch fehlt, ist eine gelungene und authentische Darstellung in einer Familie, in der so etwas passiert.
Wenigstens im Mittelteil des Buchs gibt es einige gelungene und wahrhaftige Szenen, und auch das Ringen von Jason mit sich selbst wird im Großen und Ganzen gut abgebildet – aber das ändert nichts daran, dass das Buch ansonsten zu holzschnittartig angelegt ist. Von daher bleibt T. A. Wegbergs „Meine Mutter, sein Exmann und ich“ von den beiden Transgender-Jugendromanen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, das eindeutig bessere Buch.
(Ulf Cronenberg, 13.10.2020)
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Lieber Ulf,
auch ich war enttäuscht, hatte natürlich mehr erwartet. Mir erschien vor allem die späte Einsicht der Eltern so gar nicht stimmig zu ihrem vorherigen Verhalten…
Im Frühjahr ist ein großartiges Buch bei Klett Kinderbuch mit dem gleichen Thema erschienen, wobei bereits ab 9 empfohlen wird. Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal.
Sehr charmant mit wienerischen Angklängen und Begriffserklärungen, lustigen Illustrationen und auf eine großartige Weise selbstverständlich! Das hat mich richtig begeistert, weil es von vorn bis hinten stimmig und originell ist. LG, Britta
Liebe Britta,
schön, dass wir eine ähnliche Meinung haben … Und danke auch für den Tipp. Ich werde mir das Buch von Franz Orghandl mal anschauen und hier vielleicht auch besprechen.
Liebe Grüße, Ulf
Boa Ulf, was du hier schreibst, habe ich beim Lesen genau gleich empfunden. Danke für das Besprechen solch wichtiger Genres. Zu dem erwähnten Buch der genialen Frau Orghandl möchte ich sagen, dass auch ich es wirklich super und richtig kultig finde. Ist mutig, so in den jetzigen Zeiten zu schreiben, sehr ungewöhnlich und erfrischend.
Na, da war ich jetzt echt erst mal etwas irritiert, weil ich bei „Franz Orghandl“ natürlich an einen Mann dachte … Aber nach kurzer Recherche war klar, dass das eine Frau ist.
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