(Beltz & Gelberg-Verlag 2020, 205 Seiten)
Wenn man mich fragt, welche deutschsprachige Kinder- und Jugendautor/inn/en aus den letzten 10 Jahren zu den besten gehören, so hat Stefanie Höfler für mich eindeutig einen Platz auf der Liste. Es war vor allem ihr Jugendbuch „Tanz der Tiefseequalle“, das mich mit den unterschiedlichen Stimmen der beiden Erzähler besonders beeindruckt hat. Mehrere Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis, einige andere Auszeichnung hat die Autorin, die nach wie vor als Lehrerin und Theaterpädagogin an einem Gymnasium im Schwarzwald arbeitet, für ihre Bücher bereits bekommen, zuletzt das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium für „Der große schwarze Vogel“.
Inhalt:
Helsin geht in die zweite Klasse und ist ein kleiner Wirbelwind, was positive wie negative Seiten hat. Sie ist quirlig, ihre Freunde schätzen ihre Kreativität, sie hat immer gute Spielideen, doch manchmal rastet sie aus und vergisst sich, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. „Spinner“ wird das in ihrer Klasse und von ihrer Familie genannt. Dann tritt Helsin um sich, schreit lauthals und ist für kurze Zeit nicht zu beruhigen. Ihre Lehrerin Frau Coroni und ihre Mitschüler/innen wissen jedoch inzwischen damit umzugehen.
Als Louis neu in ihre Klasse kommt, wird Helsin, weil dieser ihren Namen veräppelt, wütend und bekommt einen Spinner. Dabei schlägt sie Louis gleich mal die Nase blutig. Weil Louis sie daraufhin an einem Geheimnis nicht teilhaben lässt, rächt sich Helsin am nächsten Tag bei Louis. In der Pause bleibt Helsin durch Zufall alleine im Klassenzimmer zurück und entdeckt in Louis‘ Schultasche dessen Geheimnis.
Louis hat seinen Fidschileguan mitgebracht und allen außer Helsin gezeigt. Den Leguan klaut Helsin kurzerhand und steckt ihn in ihre Schultasche. Mit dem Vorwand, dass ihr schlecht sei, geht sie vorzeitig nach Hause. Doch ihre Eltern bekommen irgendwann nicht nur mit, dass Helsin Louis’ Nase blutig geschlagen hat, sondern auch, dass sie dessen Leguan gestohlen hat. Helsin verspricht, ihn zurückzugeben – aber das ist einfacher gesagt als getan …
Bewertung:
Mit „Helsin Apfelsin und der Spinner“ hat Stefanie Höfler ein Buch für jüngere Leser/innen als ihre letzten beiden Romane geschrieben. Auf der Webseite des Verlags steht „ab 8 Jahren“, aber das finde ich dann doch übertrieben – ich würde mal sagen, dass Selbstleser/innen ab 10 Jahren zugreifen können, dass man das Buch für Kinder ab 9 Jahren vorlesen kann. Eigentlich hatte ich bei der Altersempfehlung erst mal gedacht, dass das kein Buch für eine Buchbesprechung hier sei, aber dann hat mich eine Rezension in „Die Zeit“, wo „Helsin Apfelsin und der Spinner“ den Luchs des Monats März 2020 bekommen hat, doch neugierig gemacht.
Allerdings, das sei nicht verheimlicht, bin ich mit dem Buch anfangs nicht so ganz warm geworden. Die erste Szene – medias in res – ist gekonnt inszeniert und platziert: Helsin bekommt wegen Louis einen Spinner und schlägt ihm dabei voll auf die Nase. Doch danach stockt die Geschichte ein bisschen und ich habe mich länger gefragt, warum. Stefanie Höfler hat für das Kinderbuch einen sehr eigenwilligen Ton gewählt. Der Kinderroman ist personal aus der Sicht von Helsin erzählt, also keine Ich-Erzählung, und das fand ich etwas gewöhnungsbedürftig. Ich glaube, es ist die Distanz, die man dadurch zu Helsin behält, die mich etwas irritiert hat. Man schaut von außen auf das Mädchen und fühlt sich ihm nicht gleich verbunden.
Diese innere Distanz, die ich erlebt habe, hat sich dann irgendwann verloren – das war aber erst so richtig in der zweiten Hälfte des Buchs so. So ganz klar benennen kann ich nicht, was es war, was sie aufgehoben hat, ich glaube, es war, dass die etwas schräge Leguan-Geschichte mit all ihre Folgen in der Hintergrund getreten ist. Helsin und Louis freunden sich nämlich doch noch an, auch wenn etwas zwischen ihnen stehen bleibt: weil Helsin dem neuen Freund nicht erzählt, dass sie die Leguan-Diebin war. Hinzu kommt außerdem noch eine Figur, die mir richtig gut gefällt: Louis‘ Opa, der in einem Altersheim lebt.
Klar, der lebenslustige Opa, ein früherer Seemann, der heimlich im Altersheim Pfeife raucht, aus Gesundheitsgründen Ausgehverbot hat, sich aber darüber hinwegsetzt, um mit Helsin und Louis etwas zu unternehmen, ist etwas klischeehaft konturiert – aber das stört in dem Fall absolut nicht, weil er so liebenswürdig und erfrischend ist. Und mit Helsin hat er etwas gemeinsam: Louis‘ Großvater erzählt, dass er früher auch Spinner hatte, aber schon lange darüber hinweggekommen sei. Der halb von Helsin adoptierte Opa bringt außerdem später etwas Tragik in die Geschichte – aber es sei hier ja nicht alles verraten …
Wovon „Helsin Apfelsin und der Spinner“ eigentlich handelt? Das sind ganz verschiedene Themen. Da geht es um die Herkunft (Helsin ist adoptiert worden und kommt eigentlich aus Finnland), um Freundschaft und Eifersucht, wohl auch um ADHS (Helsin ist jedenfalls oft aufgedreht und tut sich schwer, ihre Impulse zu kontrollieren), und schließlich um den Umgang mit Wut. Ja, die Wut, die stellt Stefanie Höfler sehr kindgerecht gleich auf den ersten Seiten dar:
„Manchmal allerdings, da kocht die Energie über und spült eine rasende rote Welle in Helsins Körper hoch, und dann sieht und hört und riecht und schmeckt Helsin nichts anderes mehr als FEUERROT. Ihr ganzer Körper kribbelt von den Beinen bis in die Haarspitzen, die Nasenspitze zittert wie eine Autoantenne bei 200 Stundenkilometern, und die rote Kribbelwelle wird immer gewaltiger, bis sie überschwappt: schwupp, raus aus Helsin, und zack! hinein in die Welt.“ (S.10f)
Der Abschnitt zeigt auch, wie gekonnt Stefanie Höfler Stimmungen und Gefühle beschreiben kann: mit passenden und ungewöhnlichen sprachlichen Bildern. Die bei 200 Stundenkilometern wackelnde Antenne ist einer von so vielen beeindruckenden Vergleichen in dem Buch. Diese sprachlichen Finessen, die ausgefeilte Sprache kennt man freilich schon aus den bisherigen Büchern von Stefanie Höfler – und sie sind genau das, was ich an der Autorin so schätze. Da sitzt jedes Wort.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. In „Helsin Apfelsin und der Spinner“ macht Stefanie Höfler fast alles richtig. Das Buch hat lebendige Figuren, die Geschichte ist gut durchkomponiert und führt am Ende alle ausgelegten Fäden zusammen. Außerdem behandelt Stefanie Höfler kinderlesegerecht viele wichtige Themen. Und dass Stefanie Höfler sprachsensibel und kreativ erzählen kann, weiß, wer ihre bisherigen Bücher kennt.
Und dennoch: Irgendwas hat mir in der ersten Hälfte des Buchs gefehlt. Es hat mich – das war erst mal die Beobachtung – nicht vollständig gepackt, ich bemerke das dann immer daran, dass ich ein Buch öfter mal zur Seite lege und nicht unbedingt gleich weiterlesen will. Wie ich mir das bei dem hier besprochenen Kinderbuch erkläre, habe ich oben zu beschrieben versucht.
Diese kleine Kritik darf man nicht überbewerten, denn mir ist bewusst, dass „Helsin Apfelsin und der Spinner“ trotzdem ein ganz besonderes Buch ist, allein schon deswegen, weil es uns einen neuen Begriff für Wutanfälle gibt: „Spinner“. Und Helsin ist darüber hinaus eine Figur, die man wie „Rico“ oder gar „Pipi Langstrumpf“ im Gedächtnis behält. Mal sehen, ob sie uns in einem zweiten Buch noch mal begegnet. Vorstellen kann ich mir das gut.
(Ulf Cronenberg, 02.10.2020)
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