(Urachhaus-Verlag 2020, 272 Seiten)
Das Cover und der Titel weisen nur indirekt den Weg: Es geht in dem Kinderbuch der Kanadierin Susin Nielsen nicht, wie man vermuten könnte, um einen Camping-Trip, sondern um einen Jungen, der mit seiner Mutter – ungewollt – in einem VW-Bus lebt. Das ist alles in allem weniger heiter, als es das bunte Cover vermuten lässt. Dass Kinder auch in den reichen Ländern von Armut und Obdachlosigkeit bedroht sind, ja, darin leben, ist ein Thema, das zu wenig Beachtung findet. Susin Nielsen will in ihrem Buch aufzeigen, wie das für Kinder ist und wie es dazu kommt.
Inhalt:
Felix trägt seinen Namen (übersetzt: „der Glückliche“) nicht zufällig – seine Mutter Astrid betont immer wieder, dass seine Geburt der glücklichste Moment in ihrem Leben war. Doch für Felix und seine Mutter läuft es schon seit Jahren nicht gut. Astrid, die keinen dauerhaften Partner hat, hält es nie lange in einem Job aus, wird immer wieder gefeuert, und so leben Felix und sie in chronischem Geldmangel. Anfangs versuchen die beiden, als sie keine Wohnung mehr haben, bei Freunden zu leben, doch auch das läuft schief, so dass ihnen nur der VW-Bus, den Astrids Ex-Freund zurückgelassen hat, als Unterkunft bleibt.
Dass Astrid betont, dass die Wohnsituation nur vorübergehend ist, glaubt Felix ihr nicht mehr. Schon zu oft hat er mitgemacht, dass Astrid etwas verspricht, ihn dabei belügt, was nie böse gemeint ist, und meist ihre Versprechungen nicht einhält. Und so werden aus Wochen im VW-Bus Monate; Felix macht sich Sorgen, weil der Herbst kommt und es immer kälter wird. Er liebt seine Mutter, aber manchmal ist er auch richtig sauer auf sie – auch weil sie immer bedroht sind, von der Polizei und Ämtern aufgegriffen zu werden.
Ein Lichtblick für Felix ist, dass er einen besten Freund hat: Daniel. Außerdem lernt er Winnie, eine Mitschülerin, besser kennen. Anfangs nervt sie mit ihrem Eifer und ihrer Besserwisserei, aber nach und nach gefällt sie ihm immer besser. Alle drei bewerben sich bei einer Kinder-Quizshow. Doch nur Felix, der wissbegierig ist und ein extrem gutes Gedächtnis hat, schafft es in die Fernsehsendung. Dem Hauptgewinner winken 25.000 Euro – den Gewinn will er unbedingt einstreichen, damit er und Astrid endlich aus ihrer prekären Situation rauskommen.
Bewertung:
„Adresse unbekannt“ (Übersetzung: Anja Herre; englischer Originaltitel: „No fixed address“) hat ein ernstes Thema, denn Felix und Astrid leben in großer Not; trotzdem kommt das Buch ziemlich unbeschwert daher. Das liegt vor allem an seinem erfrischenden Erzähler: Felix schildert alles, was von August bis November passiert, ungefiltert und frisch aus seiner kindlichen Perspektive, und damit dürfte er nicht nur mich als Leser ziemlich schnell erobert haben.
Felix – das könnte man einwenden – ist fast etwas zu pointiert charakterisiert: ein Hochbegabter mit phänomenalen Gedächtnis, gleichzeitig ein sehr einfühlsamer Junge, der die Schwingungen zwischen allem spürt; tapfer, manchmal aber etwas siebengescheit ist er auch. All das stört jedoch nicht, weil Susin Nielsen ihn so liebenswürdig gezeichnet hat. Wie Felix hofft, wie er bangt, wie er verzweifelt, wie er sich Mut zuspricht, wie er sich durchbeißt, auch mal etwas nicht aushält, dann andere anschnautzt – das ist schon sehr gekonnt umgesetzt.
Die Überpointierung könnte man auch bei der Figur von Felix‘ Mutter Astrid kritisieren: Sie ist, wie ihr Sohn, eine schlaue Frau, die allerdings ständig aneckt und deswegen nie lange einen Job behält. Sie versucht sich um Felix zu kümmern, aber schafft es immer wieder nicht richtig gut. Der Grund dafür sind ihre depressiven Phasen. Immer wieder kommt sie nicht aus dem Bett und ist antriebslos. Dann wieder sprüht sie vor Elan und meint, Bäume rausreißen zu können. Als bipolare Störung (Wikipedia-Artikel) bezeichnet man das – der Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen. Solche Menschen haben es nicht leicht, und mit solchen Menschen hat man es nicht leicht – das gilt gerade für Angehörige. Und Felix bekommt die extrem wechselnden Stimmungen seiner Mutter mit voller Wucht immer wieder ab.
Wie Susin Nielsen die Geschichte erzählt, zeugt von dramaturgischem Gespür. Es passiert eigentlich ständig etwas, es kommt keine Langweile auf, und so manche Dinge sieht man kommen, andere nicht, manchmal meint man zu wissen, was passieren wird, und es geschieht dann was anderes, so dass man überrascht ist. Zu der Geschichte gehört, dass sich die Situation für Felix und Astrid zuspitzt und nicht entspannt; und natürlich ahnt man, dass es für Felix und Astrid (schließlich liest man ein Kinderbuch) gut ausgehen dürfte – aber wer erwartet, dass es die Quizshow ist, die beiden aus der Bredouille hilft, der hat sich getäuscht. Es ist komplexer. Gut so.
Was mir an „Adresse unbekannt“ gefällt, ist, dass darin aufgezeigt wird, wie eine alleinerziehende Mutter durch eine Verkettung von Unglücksfällen, hinter denen aber ihre schwierige Persönlichkeit sowie ihre psychischen Probleme stehen, obdachlos wird. Das ist plausibel erzählt, wenn auch für meinen Geschmack ein bisschen zu angloamerikanisch – doch das Schrittweise abrutschen in die dauerhaft Wohnungslosigkeit wirkt nicht nur nachvollziehbar, sondern wird auch für Leser ab 11 Jahren erfahrbar beschrieben. Wie peinlich die ganze Situation für Felix ist, der seine Wohnsituation fast bis zum Ende verheimlicht – auch seinen besten Freunden gegenüber –, kann man sich gut ausmalen.
Noch etwas wird gut und einfühlsam dargestellt und geschildert: dass Felix während der depressiven Phasen seiner Mutter die Erwachsenenrolle einnehmen muss und dass das eigentlich zu viel für ihn ist. Seine Wut, seine Enttäuschung und seine Trauer kann man verstehen, man spürt sie nicht nur an den Stellen, in denen er sich mal selbst vergisst und austickt.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Adresse unbekannt“ ist ein kurzweiliges und kreativ geschriebenes Kinderbuch, dem es gelingt, ein ernstes Thema ohne triefende Schwere zu behandeln. Die Figuren sind liebenswürdig und sympathisch, das Buch weckt Verständnis für alle Figuren – auch für Felix‘ Mutter Astrid, die so vieles nicht auf die Reihe kriegt und weswegen Felix einiges zu ertragen hat.
Manches ist deutschen Leser/inne/n vielleicht trotzdem ab und zu ein wenig fremd, Susin Nielsens Kinderbuch kommt halt doch aus Nordamerika. Und ein wenig Anstoß nehmen könnte man auch daran, dass Armut und Obdachlosigkeit in der Realität meist anders aussieht – in „Adresse unbekannt“ wird schon eine sehr spezielle Situation beschrieben. Nichtsdestotrotz ist der Kinderoman ein unterhaltsames Buch, das angemessen für Leser/innen ab 11 Jahren aufzeigt, dass es im Leben anderer Kinder manchmal ganz schön kompliziert aussieht.
(Ulf Cronenberg, 26.09.2020)
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