(Carlen-Verlag 2020, 124 Seiten)
Im Ein- bis Zweijahresabstand gab es die letzten Jahre Jugendbücher im Knapp-über-100-Seiten-Format von Tamara Bach – nur letztes Jahr kam etwas anderes: Da veröffentlichte die in Berlin lebende Autorin ein Kinderbuch von etwas größerem Umfang: „Wörter mit L“. „Sankt Irgendwas“, der neue Roman, handelt von einer Klassenfahrt, bei der einiges schiefläuft. Und so, wie schon der Titel auffällig ist, kann man bei Tamara Bach auch erwarten, dass einen beim Sprachstil wieder etwas Besonderes erwartet.
Inhalt:
Bei der Abschlussfahrt der 10 b hat es anscheinend ordentlich gekracht – das hat sich schon an der Schule herumgesprochen. Einige Schüler/innen tauschen sich darüber aus, wissen aber keine Details. Ziemlich sicher stimmt, dass als Nachspiel zu der Fahrt ein Elternabend anberaumt wurde; ansonsten gibt es Gerüchte, dass der Klasse eine heftige Kollektivstrafe droht. Mehr wissen die Schüler/innen allerdings nicht, der Rest sind Vermutungen – nicht einmal, wohin genau die Klasse überhaupt gereist ist. Nach Frankreich? Nach Spanien? Jedenfalls irgendwohin, wo es auch Ruinen und Heilige gibt. Halt nach „Sankt Irgendwas“.
In der Tat ist die 10 b mit ihrem Klassenlehrer Herrn Utz unterwegs, einem Lehrer der alten Garde, der Wert auf Disziplin legt und betont, dass es sich bei der Fahrt um keinen Schulausflug ans Meer, sondern um eine Studienfahrt handelt. Dementsprechend mussten alle Schüler/innen Referate vorbereiten, außerdem soll während der Fahrt Protokoll geführt werden. Anfangs wechseln die Protokollanten täglich, doch irgendwann wird der Klasse klar, dass das, was darin steht, nicht in die Hände der Lehrkräfte kommen darf – auch wenn Frau Kaiser, die zweite Begleitperson, durchaus nett und schülerfreundlicher ist.
Herr Utz hat vor allem einen Schüler auf dem Kieker: Josch. Der Konflikt schaukelt sich hoch. Und weil die Schüler/innen nach Meinung des Lehrers keine Eigeninitiative zeigen, reagiert er mit zunehmender Strenge. Allerdings laufen auf der Fahrt auch Sachen schief, die er selbst geplant hat. Die Stimmung wird jedenfalls immer mieser, und der große Knall lässt lange auf sich warten, bleibt aber nicht aus …
Bewertung:
Ja, Tamara Bach ist für Überraschungen gut. „Sankt Irgendwas“ beginnt mit einem knapp über 10 Seiten langen Gespräch zwischen mehreren Schülerinnen, die sich darüber austauschen, was bei der Klassenfahrt der Parallelklasse passiert ist. Das ist fast gehaltloses Geplänkel, Schülertratsch halt; viel wissen sie nämlich nicht, aber stellen reichlich Vermutungen an, tauschen sich über das aus, was die Gerüchteküche bisher schon produziert hat. Als Leser wird man dadurch neugierig, was denn nun wirklich Sache ist.
Wie das erzählt wird, ist wiederum sehr eigenwillig. Da wird einleitend erst einmal der Elternbrief des Klassenlehrers, in dem die Informationen zur Klassenfahrt stehen, wiedergegeben, bevor es dann mit den Protokollen der Schülerinnen und Schüler weitergeht; und sie fassen zusammen, was an den Tagen der Fahrt passiert. Sachliche Protokolle sind das allerdings nicht, sondern sie beinhalten vieles, was das nicht reingehört: bewertende Begriffe wie „tosender Applaus“ nach einem Referat, Nebensächlichkeiten wie das Schimpfen des Busfahrers oder Sätze in Ich-Form („Ich habe Hunger und will duschen und mich umziehen.“). Die Protokolle sind eher Erlebniszusammenfassungen aus der Sicht von Zehntklässlern.
Das Reizvolle an diesen Mitschriften ist, dass die schulische Aufgabe des Protokollschreibens durch das Nichteinhalten der Sachlichkeit zu einer Protestaktion gegen ihren Klassenlehrer wird: Die Schüler/innen reagieren reaktant auf die Art, wie ihr Herr Utz mit ihnen umgeht; und sein Verhalten ist in der Tat alles andere als sympathisch. Der Ton der Protokolle – anfangs wechseln die Schreiber noch ab – ist insgesamt etwas schnoddrig. Das liest sich dann zum Beispiel, als die Klasse eine Tropfsteinhöhle besucht und ein Schüler vor den anderen dort singen wird, so (S. 43):
Utz wollte was sagen, da hat sie [Frau Kaiser] ihm nur eine Hand auf den Arm gelegt, ihn gar nicht angeschaut, sondern bestimmt weitergeredet.
So geht das also.
In der Höhle wurde es irgendwann kalt, ich hab vergessen, wie tief wir in den Berg reingegangen sind, aber ich glaube, wir waren eine halbe Stunde unterwegs. Es war alles sehr gut ausgeleuchtet und die Wege auch nicht uneben. Irgendwann ist die Führerin stehen geblieben und hat kurz mit der Kaiserin gesprochen, und die hat dann Piet zu sich gerufen.
Weil gerade in dem Stück Höhle die Akustik so toll sein sollte.
Dieser Ton, der seinen Reiz hat, weil er so lakonisch ist, zieht sich durch fast die gesamten Protokolle, für die vor allem Ole verantwortlich ist und die den Großteil des Buchs ausmachen. Lebendig wirken sie – auch durch kleine Tricks, wenn einmal zum Beispiel eine Mitschülerin ein paar Zeilen mit Kommentaren zu dem bisher Zusammengefassten an Ole einfügt.
Ein kleines Problem hat „Sankt Irgendwas“ aus meiner Sicht jedoch: Die Dramaturgie hätte noch einen kleinen Kick gebraucht. Irgendwann so zwischen Seite 70 und 90 hat sich für mich ein wenig der Reiz an dem Buch verloren, weil es sehr gleichförmig von den Tagen der Klasse unterwegs erzählt. Das ist schlagartig vergessen, als endlich das kommt, was die Gerüchteküche angeheizt hat: die finale Eskalation zwischen der Klasse und ihrem Klassenlehrer Utz. Was hier passiert, gefällt mir als Idee richtig gut, weil man es nicht ahnt, es vor allem aber auch symbolisch gedeutet werden kann (was passiert, sei hier aber nicht verraten) … Vorher plätschert das Buch leider etwas zu lange dahin, und ich glaube, dass man hier durchaus ein bisschen gezielter vorherige Eskalationsstufen zwischen den Schüler/innen und dem Klassenlehrer unterbringen hätte können.
Was mir an dem Buch, das man auch als Kritik an der Haltung und Berufsauffassung mancher Lehrkräfte lesen kann, gefällt ist, dass „Sankt Irgendwas“ nicht einfach nur ein billiges Lehrer-Bashing abliefert. Vielleicht ist die 10 b aus dem Buch nicht gerade eine motivierte Klasse, aber eigentlich wird sie in dem Roman nicht als Problemklasse, sondern durchaus sympathisch dargestellt.
Daraus folgt dann aber, dass Lehrer Utz derjenige ist, der vor allem für die Eskalation verantwortlich ist. Er hat ganz klar andere Werte und versteht seine Schüler/innen wahrscheinlich meist nicht. Hat da jemand den Beruf verfehlt? Vielleicht kann man es eher als tragisch ansehen: dass ein Lehrer in höherem Alter, kurz vor der Pension es nicht mehr schafft, Schüler/innen zu motivieren und schülerzugewandt zu sein. Mag sein, mag nicht sein, dass er als junger Lehrer anders war.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Sankt Irgendwas“ ist ein kluges Buch, das sehr subtil aufzeigt, wie zwischen einer Klasse und einem Lehrer die Situation auf einer Klassenfahrt eskaliert. Lehrerinnen und Lehrer werden oft in anderen Büchern übertrieben negativ dargestellt, hier hat alles aber Maß und klingt plausibel, auch wenn der letzte Eskalationsschritt so in der Wirklichkeit wohl nicht stattfinden dürfte. Aber der ist eben auch allegorisch zu verstehen und gibt dem Buch seine poetische Kraft.
Tamara Bach hat wieder mal ein Buch geschrieben, das vom Ton her anders als ihre bisherigen ist, und ich finde bewundernswert, wie vielfältig die Autorin schreibt und dass jedes Buch trotzdem in ihr Gesamtwerk passt. Auch „Sankt Irgendwas“ ist ein typisches Tamara-Bach-Buch: sehr sprachsensibel und elaboriert, gar nicht im Mainstream. Und mir gefällt auch das novellenartige Format von um die 120 Seiten, das Tamara Bach meist verwendet. An dem Spannungsbogen von „Sankt Irgendwas“ hätte man noch etwas arbeiten können, aber davon abgesehen, ist der Roman ein gelungenes Buch: vor allem etwas für Leser, die nicht nur der Spannung, sondern auch der Sprache wegen Romane lesen.
(Ulf Cronenberg, 13.08.2020)
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Nach der obigen Rezension zum Buch war ich wirklich neugierig … und nach dem Lesen aufgewühlt. Denn sind wir nicht alle mit der Schulklasse schon mal in „Sankt Irgendwas“ gewesen, halt irgendwo, wo es gar nicht drauf ankam wo, sondern nur dass wir unterwegs waren?
Und hoffentlich hatten wir dort keinen Dr. Utz dabei, den unsympathischen „Pauker“ durch und durch, den vollkommen übermotivierten Leiter einer Studien(!)fahrt, völlig spaßbefreit und verbissen in seinen Bildungsauftrag. Ein Typ der mich zunächst wirklich wütend gemacht hat, weil sein Verhalten geeignet war, den sympathisch dargestellten Jugendlichen der Klasse 10b jeglichen Spass an dem gemeinsamen Erlebnis zu nehmen. Und zeitweise hatte ich das Gefühl, dass er das fast „mit Fleiß“ betreibt.
Allein schon diese ewigen Referate, die die Schüler auch noch mit Eifer und Pflichterfüllung ablieferten, waren für mich abschreckend und nervtötend, aber zum Glück auch etwas von der Realität entfernt. Und in diesem Zusammenhang schien mir die Klasse auch gar nicht untermotiviert. Vielmehr habe ich gestaunt, mit welchem Maß an Pflichterfüllung die Schüler diese Aufgabe abgearbeitet und ertragen haben.
Das auferlegte Handyverbot hat mich leider mit einem etwas komischen Gefühl an die Realität von Klassenfahrten erinnert. Man darf diesbezüglich geteilter Meinung sein. Tamara Bach regt aber an dieser Stelle eben schon zum Nachdenken darüber an, in welche Situation Schüler, Eltern und auch Lehrer durch ein solchermaßen striktes Verbot kommen können. Manchmal würde etwas Augenmaß Konflikte vielleicht auch vermeiden.
Bei aller Wut auf diesen unangenehmen Spießer Dr. Utz konnte ich dann doch nach einiger Zeit des „Sackenlassens“ versuchen, die mögliche Tragik dieser Figur zu erkennen, so wie auch die Schüler im Buch das schon überlegt hatten.
„Es ist dieser Drang aus allem etwas … Wertvolles oder so zu machen. Keine Chance, zu unterrichten oder zu formen, bleibt ungenutzt. Eben STUDIENFAHRT. Der Utz meint das echt ernst.“
Vielleicht ist Dr. Utz ja auch nur ein Opfer seiner überzogenen – im Grund zunächst aber lobenswerten – Ideale oder einfach der Jugend schon zu weit entrückt. Ich möchte dies an dieser Stelle gerne glauben.
Auf jeden Fall hat die Autorin mit Dr. Utz (allein schon der Name!) eine stimmige Figur entworfen.
Und sie hat sich tatsächlich nicht an dem „billigen Lehrer-Bashing“ á la faul und unmotiviert beteiligt.
Nicht ganz so stimmig ist ihr die Figur des Busfahrers gelungen, der sich im Laufe der Geschichte auf etwas wundersame Weise in seinem Verhalten den Jugendlichen gegenüber wandelt. Aus meiner Sicht wäre das anfänglich ablehnende Verhalten des Busfahrers den Jugendlichen gegenüber auch gar nicht notwendig gewesen – auch wenn es vielleicht die Realität von Schüler-Busreisen zutreffend widerspiegelt … (?)
Erst nach dem Lesen aufgefallen ist mir die tolle Gestaltung des Buches unter dem Schutzumschlag, die sich allerdings auch erst nach der Lektüre erklärt. Hier wird Bezug genommen auf eine wichtige Stelle im Buch.
Aus meiner Sicht bekommt das Buch eine klare Leseempfehlung, nicht nur für Lehrer und Schüler.
Vielen Dank für die Einschätzung – ich freue mich immer sehr, wenn auch andere ihre Meinung zu Büchern äußern. Und stimmt, das mit dem Busfahrer kann man etwas übertrieben finden, aber ich habe mich nicht wirklich daran gestört, weil er meiner Meinung nach einfach auch zunehmend von Dr. Utz genervt war.