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Buchbesprechung: KIM Ryeo-Ryeong „Eins zwei. Eins zwei drei.“

Cover: Kim Ryeo-Ryeong „Eins zwei. Eins zwei drei.“Lesealter 14+(Baobab-Verlag 2020, 203 Seiten)

Korea ist ein Land, über das wahrscheinlich nicht nur ich eher wenig weiß. Natürlich kenne ich so ein paar Grundbegebenheiten (darunter die Teilung in Nord- und Südkorea), auch ein paar Filme aus Südkorea habe ich gesehen, sie sind mir allerdings immer fremd geblieben. Der Baobab-Verlag ist dafür bekannt, dass er ursprüngliche Bücher aus fernen fremden Ländern veröffentlicht, darunter immer wieder auch mal Jugendromane. „Eins zwei. Eins zwei drei“ von der Südkoreanerin KIM Ryeo-Ryeong ist einer davon.

Inhalt:

Wan-Duk ist 17 Jahre alt und geht noch zur Schule. Mit seinem klein gewachsenen Vater und dem geistig-behinderten Min-Gu – Onkel genannt, aber eigentlich sind sie nicht verwandt – lebt er in Seoul. Die drei schlagen sich durchs Leben: sein Vater, indem er in Tanzlokalen als Tänzer Geld verdient, meist begleitet von Min-Gu. Als das jedoch kein Geld mehr einbringt, versuchen die beiden sich als Marktverkäufer – eher mit mäßigem Erfolg. Ihr Leben ist überhaupt eins am Rande der Gesellschaft. Die beiden Erwachsenen werden ständig verspottet, oft geschlagen; Wan-Duk ist auch nicht gerade beliebt in der Schule und hält sich von allem fern.

Sein Lehrer Dung-Ju scheint nicht allzu viel von ihm zu halten, und dennoch kümmert er sich um Wan-Duk. Ihm ist es zu verdanken, dass Wan-Duk das Kickboxen für sich entdeckt, ein Sport, der ihm gut tut, weil dadurch seine immer wieder in Aggressivität anderen gegenüber umschlagende Wut kanalisiert wird. Aus der Schule kennt Wan-Duk auch Yun-Ha, die beste Schülerin in der Klasse. Wan-Duk weiß allerdings nicht so richtig, wie man nett zu anderen ist, wie man sich mit ihnen anfreundet. Und trotzdem bahnt sich zwischen Yun-Ha und ihm eine Freundschaft an.

Eines Tages taucht auch Wan-Duks Mutter auf, eine Vietnamesin, die Wan-Duks Vater damals gegen Bezahlung geheiratet hat, die Familie dann aber kurz nach Wan-Duks Geburt verlassen hat. Wan-Duk weiß nicht, was er davon halten soll, dass sie vor ihm steht, aber auch wenn er anfangs recht abweisend ist: Er lässt sich irgendwann auf sie ein.

Bewertung:

Die Welt, in die man in „Eins zwei. Eins zwei drei.“ (Übersetzung: Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer; koreanischer Originaltitel: „Wan-Duk“) hineinschaut, ist ziemlich gewöhnungsbedürftig. Es zeichnet die Bücher von Baobab aus, dass sie ursprünglich, nicht europäisiert sind (das gehört zum Programm des Verlags); auf KIM Ryeo-Ryeongs Jugendroman trifft das eindeutig zu. Es ist eine ganz eigene Erfahrung, wenn man die ersten Seiten des Buchs liest. Man könnte es als anstrengend bezeichnen, in das Buch hineinzukommen – es ist etwas Durchhaltevermögen ist gefragt, um das Buch nicht nach einigen zehn Seiten wieder aus der Hand zu legen.

„Eins zwei. Eins zwei drei.“ ist ein Roman, der sehr viele Dialoge enthält; er beginnt auch gleich mit dem Monolog einer Figur, der fast eine halbe Seite füllt. Wie die Figuren miteinander reden, ist befremdlich: Da wird viel geschimpft, es werden anderen Personen Sachen unterstellt, verbal schenken sich die Figuren absolut nichts. Bis man versteht, dass hinter dieser Ruppigkeit Zuneigung, ja sogar Zärtlichkeit steht, dauert es eine Weile. Dung-Ju, Wan-Duks Lehrer, zum Beispiel nennt seine Schülerinnen und Schüler ständig Schwachköpfe; „Arschgesicht“ und andere Schimpfwörter ziehen sich durch das gesamte Buch.

Die Figuren des Romans stehen – kein Wunder angesichts des Umgangs miteinander – in seltsamen Beziehungen zueinander. Wan-Duk und sein Vater reden zum Beispiel nicht über das eigentlich Wichtige: weder über ihre prekäre finanzielle Situation noch über Wan-Duks Mutter, geschweige denn über die Gewalt, die Wan-Duks Vater und Min-Gu erfahren. Erst am Ende des Romans ändert sich das … Über Dung-Ju, seinen Lehrer, schimpft Wan-Duk eigentlich ständig, obwohl der Lehrer (das erkennt Wan-Duk irgendwann) sein Leben nach und nach in gute Bahnen lenkt. Auch bei der anfangs fast wortlosen Beziehung zwischen Wan-Duk und seiner Mutter dauert es lange, bis die Kommunikation etwas in Gang kommt.

Dass es Wan-Duk schwerfällt, sich auf ein Mädchen einzulassen, liegt auf der Hand. Yun-Ha und er pflegen eine merkwürdige Freundschaft: Yun-Ha trifft sich mit Wan-Duk in einer Kirche, aber nur sie erzählt, was bei ihr im Leben gerade schiefläuft, während Wan-Duk zuhört und fast nichts erwidert. Wenn sie später dann miteinander sprechen, ist es meist eher barsch und schroff. Und doch kommen sie sich näher – es ist eine eigenwillige zarte Liebesgeschichte, die in „Eins zwei. Eins zwei drei.“ erzählt wird.

Wegbereiter für Wan-Duk raus aus seiner Aggressivität und Sprachlosigkeit ist vor allem eine Person: sein Lehrer. Auch wenn Wan-Duk ständig über ihn schimpft, Dung-Ju ist letztendlich hauptverantwortlich dafür, dass sich in Wan-Duks Leben etwas ändert. Er vermittelt den Kontakt zu Wan-Duks Mutter und er bringt ihn zum Kickboxen. Im Kickbox-Studio lernt Wan-Duk Dinge, die für ihn wichtig sind: vor allem, dass er nicht immer einfach ungezügelt um sich schlagen kann, sondern seine Wut kanalisieren muss.

Erstaunlich ist, dass mich der Roman zunehmend fasziniert hat, je länger ich ihn gelesen habe. Man merkt, wie sich in Bezug auf die Figuren etwas verändert: Irgendwann beginnt man sie liebzugewinnen, ihre positiven Seiten, die hinter der Ruppigkeit stehen, zu sehen – die anfängliche Irritiertheit und Abwehr ihnen gegenüber löst sich in Mitgefühl auf, weil man sieht, dass alle Figuren vom Leben gebeutelt sind und ihre Päckchen zu tragen haben: Wan-Duks Vater, weil er so klein ist, der Onkel, weil er geistig behindert ist, Wan-Duk, weil er in einer fast sprachlosen Familie und ohne Mutter aufwächst.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. „Eins zwei. Eins zwei drei.“ von KIM Ryeo-Ryeong ist sicher kein Jugendbuch, das man allen Jugendlichen in die Hand legen kann. Man braucht eine gehörige Portion Neugier für andere Länder, muss sich auf die koreanische Welt mit den schrullig-liebevollen Figuren einlassen können, um an dem Buch Gefallen zu finden. Das, was für viele Jugendliche der Hauptleseanreiz ist, nämlich Spannung, wird in dem koreanischen Roman nicht bedient.

Der Reiz des Buchs besteht darin, in eine andere Welt zu schauen, Menschen dort kennenzulernen, die sich trotz schwieriger Lebenssituation durchs Leben schlagen, den Kopf über Wasser zu halten versuchen. Das Überraschende an dem Buch ist dessen Ton: Die vielen, aber meist oberflächlichen Dialoge zwischen den Figuren zeugen einerseits oft von einer großen Sprachlosigkeit, die aber im Laufe der Geschehnisse abgebaut wird, andererseits zeigt sich hinter all der Grobheit in den Worten auch eine unerwartete Fürsorglichkeit der Figuren untereinander; diese muss man allerdings erst entdecken. „Eins zwei. Eins zwei drei.“ bietet einen ungeschminkten Blick in eine andere Kultur, der Jugendroman ist eine Herausforderung, aber eben auch etwas Anderes und Besonderes.

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(Ulf Cronenberg, 13.06.2020)


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