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Buchbesprechung: Suzanne Collins „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“

Suzanne Collins „Die Tribute von Panem X“Lesealter 16+(Oetinger-Verlag 2020, 604 Seiten)

„Die Tribute von Panem“ hat mit dem ersten Band vor 11 Jahren für Furore gesorgt – die Trilogie um die Hungerspiele bot eine lesenswerte und gut durchdachte Dystopie. Die Bücher wurden sogar von Leserinnen und Lesern verschlungen, die meiner Meinung nach zu jung dafür sind (ich kannte damals einige begeisterte Fünft- und Sechstklässler/innen), gewaltfrei sind die Bücher nämlich ganz und gar nicht. Jedenfalls kannte damals wohl jeder die Hungerspiele, auch weil ab 2012 die Verfilmung folgte. Neun Jahre nach dem letzten Buch ist nun ein weiterer Band erschienen – 600 Seiten schwer. Kein Folgeband, sondern ein Prequel, das die Vorgeschichte von Katniss‘ Widersacher Coriolanus Snow, dem Präsidenten von Panem, erzählt.

Inhalt:

Coriolanus Snow ist 18 Jahre alt und Abkömmling der früher mächtigen Familie Snow. Doch seine Eltern sind beide tot, und mit dem Rest der Familie, seiner Großmutter und der Cousine Tigris, lebt er zwar noch im pompösen Haus der Familie, sie sind jedoch ziemlich arm und einflusslos. Coriolanus geht auf die Akademie des Kapitols, eine Eliteschule. Immerhin ist zu hoffen, dass er durch diese besondere Ausbildung irgendwann Karriere machen wird.

Die 10. Hungerspiele stehen an, und wie immer muss jeder der unterworfenen 13 Distrikte, die dem Kapitol unterstehen, zwei Personen entsenden, die als Tribute dann in der Arena gegeneinander antreten. Nur ein Spieler kann gewinnen, indem er den tage-, manchmal wochenlangen Kampf als einziger überlebt. Das Besondere diesmal ist, dass die Schüler der Akademie Mentoren der entsandten Tribute sind. Coriolanus bekommt ein hübsches, aber eher zierliches Mädchen aus dem ärmlichen Distrikt 12 zugewiesen, das Lucy Gray heißt. Dass sie den Kampf in der Arena als Einzige überlebt, kann sich niemand vorstellen.

Überrascht ist Coriolanus allerdings dann doch: Lucy Gray weiß sich mit ihm vor den Hungerspielen geschickt zu promoten – sie singt bei den Auftritten vor den Spielen in die Kameras und weiß die Gunst des Publikums zu gewinnen. Das ist gut so, denn dadurch bekommt Lucy für die Hungerspiele von den Reichen teure Geschenke, mit denen ihr Mentor Coriolanus ihr dann Essen und Trinken in die Arena schicken kann. Coriolanus merkt außerdem irgendwann, dass er mehr als nur Zuneigung für Lucy Gray empfindet. Sie scheint das zu erwidern …

Bewertung:

Als ich mitbekommen habe, dass ein neuer Band von „Die Tribute von Panem“ erscheint, hatte ich widerstreitende Gefühle. Einerseits war da ein bisschen Freude, noch mal in die Welt der Hungerspiele eintauchen zu können, denn die Trilogie war einfach etwas Besonderes gewesen; andererseits tauchte die Frage auf, was der Anlass für das Buch war. Spielten da auch finanzielle Überlegungen oder der Wunsch nach einer Fortsetzung des Erfolgs eine Rolle? Wenn ja, dann ist das nicht immer die beste Motivation für ein Buch …

Was man geliefert bekommt, ist eine Geschichte, die weit vor Katniss‘ Abenteuer in Band 1 bis 3 (Buchbesprechungen: Band 1, Band 2, Band 3) spielt: gut 60 Jahre früher. Die Hauptperson ist ein alter Bekannter: Coriolanus Snow ist als späterer Präsident von Panem der Widersacher von Katniss, im neuen Band ist er noch Schüler. „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ (Übersetzung: Sylke Hachmeister und Peter Klöss; amerikanischer Originaltitel: „The Ballad of Songbirds and Snakes“) versucht auszuloten, wie und warum Coriolanus Snow zu der Person geworden ist, als die er in der Trilogie auftritt.

Wer in das dicke Buch einsteigt, hat es erst mal schwer: Was Suzanne Collins da abliefert, ist ein wirklich langatmiges und zum Gähnen verleitendes erstes Kapitel (puh!) – ein schnöder Einstieg in die familiäre Vorgeschichte und Situation von Coriolanus Snow, ohne erzählerische Raffinesse. Das hätte man deutlich besser machen können. Immerhin ist die Langeweile in den nächsten Kapiteln vergessen; das Buch nimmt mit dem Erscheinen von anderen Figuren deutlich an Fahrt auf und steigert sich.

Im Buch gibt es einige schillernde Figuren: Da ist zunächst einmal Sejanus, ein Mitschüler von Coriolanus, zu dem dieser ein zwiespältiges Verhältnis hat. Sejanus spielt in dem ganzen Buch eine Rolle, und sie wird zunehmend tragisch. Außerdem treten die Machthaber des Kapitols auf: Dekan Highbottom und Dr. Gaul – vor allem Letztere ist eine ziemlich perfide Strippenzieherin, die bereit ist, ihre Macht mit allen Mitteln auszubauen. Für die Geschichte von besonderer Bedeutung ist schließlich Lucy Gray – die gute Seele des Romans, bei der man sich manchmal aber nicht so ganz sicher ist, ob sie nicht auch verborgene dunkle Seiten in sich trägt. Coriolanus steht im Zentrum von all diesen Figuren, und auch wenn er versucht, die Kontrolle zu behalten: Er ist in dieser Figurenkonstellation oft ein Spielball – insbesondere Dr. Gaul spielt ihm mehrfach übel mit.

Auf den einfallslosen Einstieg folgen 350 Seiten, die es in sich haben: Die Geschichte wird zunehmend interessanter und rasanter, der Gipfel sind die Hungerspiele, in denen es darum geht, dass Lucy Gray mit Unterstützung von Coriolanus zu überleben versucht. Die Hungerspiele sind zugleich für die Leser der Trilogie gewohntes Terrain, man fühlt sich quasi heimisch und liest das alles wie im Flug. Doch dann folgt ein großer Bruch: Man ist auf Seite 370, die Hungerspiele sind vorbei, der dritte Teil des Buchs beginnt mit der Überschrift „Der Friedenswächter“. Coriolanus wird zum einfachen Soldaten im Distrikt 12 degradiert – eine Folge davon, dass bei den Hungerspielen (mehr sei nicht verraten) etwas nicht ganz fair abgelaufen ist …

Durch die restlichen 230 Seiten, deren Spannungsbogen leider im Vergleich zu den vorher stattfindenden Hungerspielen flach bleibt, kämpft man sich eher durch; man versteht, dass „Das Lied von Vogel und Schlange“ kein rundes „Panem“-Buch ist, sondern eher so etwas wie ein Additum, das vor allem ein Ziel hat: Es ist eine Charakterstudie, die zu erklären versucht, wie der spätere Präsident von Panem zu einem recht skrupellosen Machthaber geworden ist. Die Schwäche des Buchs wird hier deutlich: Die Geschichte mag für große Fans der „Panem“-Bücher als gute Lektüre durchgehen, wer jedoch mit etwas weniger enthusiastischen Vorerfahrungen herangeht, stellt fest, dass die epische Breite des Buchs nur teilweise einen Reiz auf den 600 Seiten entfaltet.

„Das Lied von Vogel und Schlange“ ist deswegen meiner Einschätzung nach – anders als die drei „Panem“-Bände – auch kein typischer Jugendroman; hinzu kommt, dass der Roman brutaler als die Bücher der Trilogie sind. Die Hungerspiele waren auch in den Hauptbänden nicht immer leicht zu verdauen, aber durch Katniss als Haupt- und Identifikationsfigur, mit der man mitfiebert, ist das gut auszuhalten; bei Coriolanus Snow mit seinen komplexen und widersprüchlichen Persönlichkeitsteilen, den man als Leser nur teilweise sympathisch findet, ist das alles deutlich schwerer zu verdauen.

Fazit:

3 von 5 Punkten. Vom lahmen Einstiegskapitel abgesehen fühlte ich mich mehr als die Hälfte von „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ gut unterhalten. Doch dann hat meine Leselust deutlich nachgelassen, weil die Geschichte mit Coriolanus als Friedenswächter in Distrikt 12 nicht mehr wirklich spannend ist. Nach gut 300 packenden Seiten braucht man etwas Durchhaltevermögen, um den vergleichsweise langatmigen Rest des Buchs durchzustehen. Für „Panem“-Fans, die mit der Trilogie groß geworden sind und die jetzt als junge Erwachsene mal wieder in die „Panem“-Welt eintauchen wollen, mag das in Ordnung sein. Aber allen anderen Lesern kann man das Buch nicht empfehlen.

Ich habe mich wiederholt gefragt, warum Suzanne Collins dieses Prequel geschrieben hat. Klar, der Roman ist gut geschrieben, die Psychologie hinter den Figuren ist komplex, vermag die dystopische Panem-Welt ein bisschen zu erklären; aber all das hätte man in einen deutlich besseren Spannungsbogen packen können. Das Ende vor allem, erscheint mir zudem etwas schnell gestrickt (wer das Buch gelesen hat, weiß wahrscheinlich, was ich meine). Das ist alles nicht ganz rund und fällt deutlich zu den drei Bänden der „Panem“-Trilogie ab.

Muss man „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ gelesen haben? Ich würde da eher Nein sagen; ich glaube, es ist besser, man bleibt bei der Trilogie, behält sie gut in Erinnerung und lässt sich nicht durch ein nur phasenweise gutes Buch die Begeisterung für die Hungerspiel-Welt nehmen.

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(Ulf Cronenberg, 01.06.2020)


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