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Buchbesprechung: Neal Shusterman „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“

Cover: Neal Shusterman „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“Lesealter 14+(Sauerländer-Verlag 2019, 604 Seiten)

Ich hatte mir Band 3 der „Scythe“-Trilogie von Neal Shusterman noch etwas aufgehoben – aber nun ist er gelesen. Der zweite Band war wirklich ein herausragendes Buch, und wer die „Scythe“-Bücher noch nicht kennt: Sie erzählen eine eigenwillige Story, eine Zukunftsgeschichte, die eigentlich als Utopie gedacht war, aber irgendwie doch viel davon handelt, wie die Menschen weiterhin Schlimmes tun. Sie streben danach, ihre Macht zu vergrößern und sie auszunutzen, es gibt Verfolgungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen u. v. m. Wie Band 3 die Geschichte um Rowan und Citra (alias Scythe Anastasia) zu Ende bringt, darauf war ich sehr gespannt.

Inhalt:

Die Scythes sind umfangreich ausgebildete Männer und Frauen in beeindruckenden Gewändern, deren Aufgabe es ist, Menschen zu töten, so dass in einer Welt, in der der Tod eigentlich besiegt wurde, noch etwas Demut vor dem Leben bleibt. Die Welt wird vom Thunderhead, einer weltumfassenden künstlichen Intelligenz, regiert, was grundsätzlich gut klappt. Doch eine unumstößliche Regel des Thunderheads besagt, dass er nicht in Scythes-Belange eingreifen darf; und dort hat sich der machthungrige und gewissenlose Scythes Goddard durchgesetzt und ist zum neuen Oberhaupt ernannt worden.

Endura, der Rückzugsort der Scythes, ist untergegangen, und auch wenn Scythe Goddard es so verbreitet: Schuld daran ist nicht Rowan, ein ehemaliger Scythe-Lehrling, der die Scythe-Auswüchse bekämpft hat, sondern Goddard selbst – mit dieser Lüge konnte er jedoch seine Weste reinwaschen und sich zum Alleinherrscher aufschwingen. Mit Endura sind auch Scythe Anastasia, Goddards zweite Gegenspielerin, und Rowan in einem gut geschützten Container versenkt worden – doch beide können einige Jahre später bei einer Bergungsaktion gerettet und wiederbelebt werden. Scythe Goddard darf davon jedoch nichts wissen.

Der Thunderhead hat Pläne, die jedoch niemand so recht durchschaut. Im Hintergrund plant er Großes: Auf Atoll-Inseln im Pazifik stranden Menschen, die bei Schiffsunglücken gerettet und auf die Inseln gebracht werden. Und sie bauen dort im Geheimen etwas auf. Die Ziele des Thunderhead dahinter kennt niemand, aber er steuert alles und lässt alle notwendigen Materialien und Gerätschaften auf die Inseln bringen. Scythe Anastasia tritt irgendwann auch wieder in Erscheinung und wendet sich an die Bevölkerung: Sie will nachweisen, dass Scythe Goddard in seinem Leben viele Dinge (darunter Weltraummissionen) sabotiert hat, das bisher aber verschleiern konnte. Anastasia gewinnt langsam als Widersacherin von Goddard an Einfluss …

Bewertung:

Wie schon mit Band 2 ging es mit auch beim Abschlussband der Trilogie so, dass ich schon nach kurzer Zeit wieder richtig in die Geschichte eingetaucht bin und mich darüber gefreut habe, dass Neal Shusterman ein bravouröser Erzähler ist. „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“ (Übersetzung: Kristian Lutze, Andreas Helweg und Pauline Kurbasik; amerikanischer Originaltitel: „The Toll – Arc of a Scythe“) setzt in den Jahren nach dem Untergang Enduras ein und hat eine schwere Hypothek.

Der Vorgänger-Band war einfach eine grandiose Geschichte, durchgängig gut erzählt, straff komponiert und trotz der 500 Seiten ohne einen einzigen Hänger, mit einem Finale, das einen fast sprachlos gemacht hat. Das noch in Erinnerung, beginnt der dritte Band deutlich gemächlicher und verworrener mit weit ausholenden und vielfältigen Erzählsträngen. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn man – wie ich – zwischen dem Lesen der drei Bände ein bisschen Zeit verstreichen lässt: Der Spannungsabfall zu Beginn von Band 3 wird ein wenig abgefedert. Allerdings war es mir nach dem Finale von Band 2 nicht ganz leicht gefallen, mir nicht gleich den Nachfolger zu schnappen …

Erzählt ist auch „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“ wieder richtig gut, allerdings etwas sperriger. Man könnte das als abwechslungsreicher würdigen, aber ich finde, dass die Geschichte nicht so aus einem Guss ist wie in Band 2. Es verlieren sich zwar keine der Erzählfäden ganz, aber manchmal wird der Plot schon fast etwas fahrig, wenn das Wiederauftauchen einer Figur über 200 Seiten braucht. Außerdem findet man in manchen Teilen des Romans etwas seltsame Zitate über die Tonisten als Kapitelbrücken – auf sie kann man sich nicht immer einen Reim machen und man fragt sich, ob Neal Shusterman nicht auch drauf verzichten hätte können. Wer diese Stellen überliest, dem entgeht meiner Meinung jedenfalls nicht wirklich etwas.

Bewundernswert durchkomponiert ist auch Teil 3 – etwas, was für die gesamte Trilogie gilt. Da steht angesichts der vielen Erzählstränge, die sich immer wieder zusammenfügen, und angesichts der vielen Figuren viel Konzeptarbeit dahinter. Was den Abschlussband angeht, so ist geschickt gemacht, dass man als Leser genau wie die Bewohner auf dem Insel-Atoll im Dunkeln tappt, was der Thunderhead die Menschen dort bauen lässt. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, auf was das alles hinausläuft; wenn man es dann gegen Ende erfährt, erscheint einem alles allerdings logisch – man hätte draufkommen können.

Besonders gefallen hat mir in „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“ eine neue hinzugekommene Figur: Jerico Soberanis ist Kapitän des Schiffs, das Rowan und Anastasia aus dem untergegangenen Endura birgt, und Jerico spielt auch im weiteren Verlauf des Buchs eine wichtige Rolle. Interessant ist jedoch vor allem, dass er als auf Madagaskar geborener Mensch genderfluid ist, also kein eindeutig zugewiesenes Geschlecht hat. Mal ist er Frau, mal ist er Mann, und das ist bei ihm vom Wetter abhängig. Scheint die Sonne, ist Jerico Frau und möchte als „sie“ angesprochen werden, ist es bewölkt, ist er Mann … Eine interessante Idee, die einmal mehr zeigt, dass Neal Shusterman ein kreativer Kopf ist, indem er mit dem Transgender-Thema spielt.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“ hatte es nicht leicht, nach dem makellosen, brillanten Band 2 der „Scythe“-Trilogie. Während dort ein sehr pointierter Spannungsbogen mit drei interessanten Hauptfiguren geschickt aufgezogen wird, fehlt dem vorliegenden dritten Band diese Konzentration auf die Stärken ein wenig. Das Buch ist etwas fahriger, ein kleines bisschen weniger spannend, tritt mal leicht auf der Stelle. Das ist alles nicht weiter schlimm, und würde man nicht den zweiten Band kennen, wäre das wohl gar nicht groß auffallen. Aber ein bisschen schade ist es eben doch, dass der Höhepunkt der Trilogie in der Mitte liegt. Wie toll wäre es gewesen, wenn Band 3 alles in den Schatten gestellt hätte …

Nichtsdestotrotz, „Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten“ schließt die drei Bücher gut ab, und die Trilogie an sich ist alles in allem, sofern man das Genre mag, eine Meisterwerk. Das hat viele Gründe: Neal Shusterman ist ein findiger Erzähler, der seine Geschichte immer wieder mit Anspielungen und Sprachwitz garniert, der außerdem seinen Plot vielschichtig und gekonnt aufzieht. Die „Scythe“-Bücher spielen zwar in der Zukunft – aber sie greifen dabei einige aktuelle Themen auf: zum Beispiel die menschliche Sehnsucht nach einem ewigen Leben oder den narzisstischen Machthunger und die Skrupellosigkeit von Despoten und Machthabern. Interessant ist aber vor allem auch die Idee des Thunderheads. Man kann sich angeregt von den Büchern fragen, ob eine von einer künstlichen Intelligenz gesteuerte Welt ein Fortschritt wäre …

Was am Ende der Trilogie noch mal auszusprechen ist, ist eine Empfehlung: Lest die drei „Scythe“–Bände, wenn ihr in eine besondere Zukunftswelt eintauchen wollt. Neal Shustermans Trilogie ist unterhaltsam und trotz der mehr als 1500 Seiten nicht nur kurzweilig, sondern ein packender und inspirierender Genremix aus Science-Fiction, Dystopie und Utopie und irgendwie auch ein bisschen Film noir …

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(Ulf Cronenberg, 17.05.2020)


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