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Buchbesprechung: Jason Reynolds „Long way down“

Cover: Jason Reynolds „Long way down“Lesealter 14+(dtv 2019, 314 Seiten)

Hat nicht erst letztes Jahr ein Versroman (für mich überraschenderweise) den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen? Es war Steven Herricks „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“. Ich habe mich jedenfalls gewundert, dass mit „Long way down“ nun schon wieder ein Versroman auf der Nominierungsliste für den diesjährigen Jugendliteraturpreis steht. Jason Reynolds ist ansonsten inzwischen ja ein alter Bekannter – bereits vier Bücher von ihm wurden hier besprochen. Doch dass er in Versen schreibt, ist neu. Und ein dickes Lob schon mal für das Cover, das ich wirklich grandios finde.

Wills älterer Bruder Shawn wurde ermordet – der einzige Bruder, den Will hatte, sozusagen sein Lieblingsbruder. Die Mutter von Shawn und Will ist am Boden zerstört, sitzt nur noch am Tisch und kommt aus dem Heulen nicht mehr raus. Will geht es auch nicht gut, aber er hat eine Regel verinnerlicht, die ihm oft genug vermittelt wurde. Sie heißt, dass man nicht weint, egal, was passiert ist. Noch zwei weitere Regeln gelten in der Welt, in der Will aufgewachsen ist, und auch sie hat er verinnerlicht: Verpfeife, egal, was passiert, nie jemanden (selbst wenn du weißt, wer der Mörder deines Bruders ist). Und: Wenn jemand getötet wird, den du liebst, finde den Mörder und töte ihn.

Genau das hat Will vor. Er kennt das Versteck von Shawns Pistole und er holt sie raus, denn er glaubt zu wissen, wer seinen Bruder getötet hat. So zieht er mit der Waffe los, auch wenn er noch nie mit einer Pistole geschossen hat. Sein Ziel: Er will Riggs, den er für den Mörder seines Bruders hält, suchen und ihn töten.

So weit ist das erst mal eine normal erscheinende Geschichte, wenn man sie zusammenfasst. Doch dann wird es kurios. Will steigt in den Aufzug, drückt auf die unterste Taste („L“ wie Lobby, also Erdgeschoss, steht drauf) und im siebten Stock hält der Aufzug das erste Mal. Es steigt ein fremder Mann ein, der sich ihm kurz darauf als Buck vorstellt. Will glaubt, dass er träumt, denn Buck, der quasi der große Bruder für Shawn war, ist schon einige Zeit tot – ermordet. Shawn war es auch, der Bucks Tod gemäß den Regeln gerächt hat. Buck spricht mit Will und will ihm klarmachen, dass er doch gar nicht mit einer Waffe umgehen könne … Am Ende des Gesprächs steckt sich Buck eine Zigarette an, die Fahrstuhlkabine füllt sich mit Zigarettenrauch, bevor beim nächsten Stockwerk erneut die Tür aufgeht.

Das ist dann der Moment, wo einem als Leser dämmert, was hier passiert – denn eine weitere Person betritt die Kabine: Dani, ebenfalls tot; ein Mädchen, das Will aus den gemeinsamen Sandkastenspieltagen kannte. Man beginnt sich auszumalen, wie es weitergehen wird, wenn der Aufzug auf dem Weg in die Lobby noch vier Stockwerke vor sich hat …

„Long way down“ ist eine Reise im Inneren von Will, der auf dem Weg vom achten Stockwerk nach unten (in den USA wird das Erdgeschoss als „first floor“ bezeichnet) im Geiste den Toten aus seiner Familie und aus dem Freundeskreis begegnet. Er beginnt sich zu fragen, ob er das Richtige tut, wenn er den Tod seines Bruders rächt. Eine gute Minute dauert die Fahrt nach unten, und in jedem Stockwerk taucht eine ermordete Person auf und hat dazu etwas zu sagen … Das alles wird sehr dicht erzählt, und weil die Versform alles verknappt, bleibt sehr viel Platz für gedankliche Leerräume. Der Text sagt mehr, als die Worte, die er umfasst.

Jason Reynolds weiß die Versform in „Long way down“ (Übersetzung: Petra Bös; englischer Originaltitel: „Long Way Down“) zu nutzen: Mit Einrückungen wird gespielt, mit kursivem und normal gedrucktem Text – zum Beispiel, wenn zwischen Will und den anderen Figuren Gespräche stattfinden. Auch Leerräume auf den Seiten werden wiederholt verwendet. Ein besonders augenfälliges Beispiel für das Spielen mit der Versform ist auf Seite 21 zu finden, wo will beschreibt, wie sich Shawns Tod für ihn anfühlt:

Ich habe noch kein

Erd___beben erlebt.
Keine___Ahnung
ob das___so ähnlich ist
es fühl___te sich aber an
als ob__der Boden sich öffnete
und__mich verschlang.

Faszinierend an „Long way down“ ist, wie die Stimmung aufgebaut wird. Will steht mit verstorbenen Freunden und Familienmitgliedern im Aufzug, diese sprechen mit ihm und bringen ihn dazu, sein Gedanken und Gefühle zu erforschen – allerdings wehrt er sich, weil das Szenario so unglaubwürdig ist. Jason Reynolds‘ neues Buch ist ein Entwicklungsroman über einen Jungen, der beginnt, seine Prägungen und die ihm eingeimpften Regeln in Zweifel zu ziehen. Dass in dem Aufzug die Luft angesichts der rauchenden Personen immer dicker wird, kann man symbolisch verstehen: Dem allen ist nicht zu entkommen.

Am Ende, als Will im Erdgeschoss ankommt, ist er verwirrt – klar. Was im Aufzug passiert ist, ist ja nichts rational Erklärbares, eher etwas Übersinnliches. Welche Lehren Will aus all dem zieht, das bleibt am Ende ungesagt, und das ist vielleicht auch gut so. Man hat als Leser jedoch eine Ahnung …

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ich kann verstehen, warum Jason Reynolds‘ „Long way down“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, obwohl es wieder ein Versroman ist: Es ist nicht nur die Form des Romans, die überzeugt, sondern es ist darüber hinaus die geniale Idee, eine Aufzugfahrt als lang ausgedehnte innere Reise – in Slow Motion quasi – und als Konfrontation mit den bisherigen Toten in Wills Leben zu inszenieren. Jason Reynolds‘ bisherigen Jugendromane, die ich gelesen haben, waren sehr gut erzählt und gelungen, aber bei „Long way down“ kann man staunen. Hier ist alles komprimiert und kondensiert, auf den Punkt gebracht.

Eine leichte Lesekost ist der Versroman allerdings nicht – nein, das Buch ist nur etwas für Leser/innen, die sich darauf einlassen können, keine normal erzählte Geschichte vor sich zu haben (übrigens war das Buch erst mal in normaler Erzählform angedacht, bevor Jason Reynolds von seiner Agentin auf die Idee gebracht wurde, ihn in Versform zu schreiben). Sinnvoll ist es auch, wenn man sich schon vorher mit dem Thema der Gewalt in Brennpunktvierteln der USA beschäftigt hat – Bücher, nicht nur von Jason Reynolds, gibt es dazu viele (z. B. die empfehlenswerten Bücher von Angie Thomas).

Jason Reynolds‘ gut vorgetragene Botschaft ist klar: Gewalt sollte man nicht mit Gewalt beantworten, es ist wichtig, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen. Wie schon in seinen anderen Büchern steht dahinter der Versuch, in Büchern andere Wege für Jugendliche in den Problemvierteln der USA – gerade unter Schwarzen – aufzuzeigen. Dass Jason Reynolds dieses Thema immer wieder aufgreift, dass er dranbleibt, ist ihm hoch anzurechnen.

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(Ulf Cronenberg, 12.04.2020)


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Kommentar (1)

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