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Buchbesprechung: Alan Gratz „Vor uns das Meer“

Cover: Alan Gratz „Vor uns das Meer“Lesealter 12+(Hanser-Verlag 2020, 279 Seiten)

„Drei Jugendliche – Drei Jahrzehnte – Eine Hoffnung“ steht über dem Titel auf dem Cover. Das erscheint auf den ersten Blick etwas reißerisch, aber es trifft im Großen und Ganzen gut, um was es in dem Jugendroman geht (am Ende der Buchbesprechung mehr dazu). Der Jugendroman handelt von drei Familien mit Kindern, die zu unterschiedlichen Zeiten aus ihrem Land fliehen. Das klingt nach einer interessanten Konstruktion, die sich der in North Carolina lebende Schriftsteller Alan Gratz ausgedacht hat. Und das Thema Flüchtlinge ist ja nach wie vor erschreckend aktuell …

Inhalt:

1938 in Berlin. Josef, seine kleineren Schwestern sowie seine Eltern, eine jüdische Familie, beschließen Hals über Kopf aus Deutschland zu fliehen. Der Vater, der vor kurzem aus einem Konzentrationslager entlassen wurde, stößt erst in Hamburg zur Familie, und Josef erschrickt, als er ihn sieht. Sein Vater ist abgemagert, hat einen erschrocken-ängstlichen Blick und wirkt krank. Trotz Kontrollen schaffen sie es auf die St. Louis, ein Schiff, das sie nach Kuba bringen soll.

1994 in Havanna (Kuba). Isabel lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Havanna, die Menschen leiden Hunger und werden vom sozialistischen Fidel-Castro-Regime unterdrückt. Als der Vater auf einer Demonstration lauthals aufbegehrt, wird er von Polizisten zusammengeschlagen. Einer der Polizisten kennt ihn. Für Isabels Vater ist klar, dass er sofort aus Kuba fliehen muss – er will nicht ein zweites Mal ins Gefängnis gesteckt werden. Ein Nachbar hat mit seinem Sohn ein provisorisches und kaum seetüchtiges Boot gebaut, und damit brechen die beiden Familien Hals über Kopf auf. Ihr Ziel: Miami in den USA …

2015 in Aleppo (Syrien). Mahmoud und seine Familie versuchen in der ständig umkämpften Stadt zu überleben. Doch als das Haus, in dem sie wohnen, durch einen Bombenangriff zerstört wird, beschließen die vier, sofort aufzubrechen. Ihr Ziel ist Deutschland. Sie setzen sich in ihr Auto und wollen damit erst mal in die Türkei fahren. Doch bereits dabei gibt es Probleme – schon vor der Grenze haben sie das Auto verloren und sind ohne unterwegs …

Bewertung:

Alan Gratz hat mich mit seinem Roman beeindruckt: Allein die Idee, drei Flüchtlingsschicksale aus verschiedenen Zeiten in ein Buch zu packen, ist gelungen. Wie Alan Gratz das jedoch in „Vor uns das Meer“ (Übersetzung: Meritxell Janina Piel; amerikanischer Originaltitel: „Refugee“) aufzieht, ist besonders bewundernswert – das sei gleich zu Beginn gesagt. Dass da auch viel Arbeit drin steckt, kann man sich denken, denn das Buch enthält ja quasi drei kurze Romane in einem.

Alan Gratz hat viel recherchiert – das wird einem schon während des Lesens klar; bestätigt wird es durch das Nachwort, in dem der Autor beschreibt, was an den Geschichten fiktiv und was historisch belegt ist. Die MS St. Louis (Wikipedia-Artikel) gab es zum Beispiel wirklich; sie hat in der Tat jüdische Flüchtlinge nach Kuba gebracht, die dort nicht an Land gelassen wurden. Auch einzelne Figuren wie der Kapitän des Schiffs und andere Besatzungsmitglieder haben gelebt. Die Familien aus den drei Einzelgeschichten dagegen sind alle erfunden, wobei das Schicksal von Josefs Vater auch an realen Vorbildern ausgerichtet ist. Auch bei der kubanischen Geschichte gibt es historisch entlehnte Dinge wie die Aufstände, in die Isabels Vater verwickelt ist.

In die drei Schicksale wird man schnell hineingezogen – bloß das Anfangskapitel ist in seinen Dialogen etwas steif. Das gibt sich jedoch danach. Die Kapitel sind meist zwischen 5 und 12 Seiten lang, und man folgt (außer ganz am Ende) immer in der gleichen Reihenfolge mit jedem Kapitel wechselnd den drei Jugendlichen: Josef, Isabel und Mahmoud. Erzählt wird – das ist sinnvoll, damit die schlimmen Erlebnisse der Flüchtlingsschicksale nicht zu heftig auf jugendliche Leser treffen – personal, also in der Er-Form.

„Vor uns das Meer“ erzeugt schon nach wenigen Kapiteln einen großen Sog – man muss einfach weiterlesen. Alan Gratz macht das auch sehr geschickt, denn nicht selten wird man am Ende eines Kapitels mit der Andeutung einer geänderten Situation – meist irgendwelcher unvorhergesehenen Probleme – hängen gelassen. Da steht dann im letzten Satz bei Isabels Geschichte zum Beispiel, dass durch Einschusslöcher Wasser ins Boot strömt. Doch bis es bei Isabel weitergeht, hat man zwei andere Kapitel vor sich. Für Spannung ist jedenfalls durchgehend gesorgt.

Überhaupt ist „Vor uns das Meer“ ein sehr genau durchkomponiertes Buch – es gab da mehrere Momente, wo ich nur staunte. Das geht damit los – und das ist ja der Clou an dem Buch –, dass die Geschichten in vielem parallel verlaufen (alle fliehen z. B. übers Meer). Dass die vorkommenden Länder miteinander verzahnt sind, macht die Sachen reizvoller: Mahmoud und Familie fliehen von Syrien nach Deutschland, Josefs Familie versucht von Deutschland nach Kuba zu kommen, und Isabels Gruppe sucht den Weg von Kuba in die USA. Ziemlich spät im Buch bekommt man schließlich mit, dass es sogar trotz der unterschiedlichen historischen Zeiten der Geschichten zwei gemeinsame Figuren gibt – ein kluger Winkelzug, der faszinierend ist, weil sich unerwarteterweise Kreise schließen.

Die drei Jugendlichen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu beschreiben, ist Alan Gratz gut gelungen – man kann sich in sie alle gut hineinversetzen. Josef zum Beispiel ist er sehr vielschichtig angelegt. Er versteht nicht alles, was um ihn herum passiert – gerade auch das, was seinem Vater im Konzentrationslager angetan wurde, ahnt er nur ansatzweise. Josef ist allerdings sehr schockiert angesichts der physischen und psychischen Verfassung seines Vaters. Es ist nicht nur Mitleid, das Josef empfindet, sondern er zeigt oft auch Wut, weil sein Vater nicht mehr Vater ist, sondern Josef immer wieder die Führung übernehmen muss. Diese Vielschichtigkeit ist auch in den anderen Figuren zu finden.

Und wie beendet man ein Buch über drei Flüchtlingsschicksale für Leser ab 12 Jahren? Nicht alle Geschichten gehen gut aus – alles andere ginge an der Realität vorbei. Jedoch bleibt das Buch hier eher vage und schildert keine Grausamkeit, deutet sie nur an. Das ist auch angemessen. Und trotzdem gibt es zugleich ein Happy End, das nicht blauäugig, nicht kitschig oder rührselig ist. Nein, es ist anrührend. Und es bietet den Funken Hoffnung, den ein Buch für jüngere Jugendliche über das Thema braucht.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Vor uns das Meer“ ist ein intelligentes Buch, das Jugendlichen ab 12 Jahren Flüchtlingsschicksale sehr einfühlsam und mit der richtigen Mischung aus Wahrhaftigkeit und Schonung nahebringt. Vor allem der Brückenschlag zwischen drei unterschiedlichen Zeiten und Ländern stellt eine grandiose Idee dar. Flüchtlinge gab es immer und wird es leider auch weiterhin geben. Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen und tragen diese Erlebnisse ihr Leben lang mit sich herum. Dafür sensibilisiert Alan Gratz in seinem Buch, weil es drei Flüchtlingsbiografien von Jugendlichen anschaulich macht.

Das Bewundernswerte ist, wie Alan Gratz diese drei Schicksale miteinander verknüpft, wie ähnlich vieles trotz der unterschiedlichen Umstände ist. Es ist allerdings nicht so, dass die Jugendlichen, wie etwas reißerisch auf dem Buch steht, „eine Hoffnung“ haben – das Buch zeigt die Jugendlichen anders, differenzierter: Sie sind eher Leidtragende, die angesichts der Not der Eltern und deren Hoffnung auf ein anderes Leben, mitziehen und mitgezogen werden. „Vor uns das Meer“ ist ein Buch, dem ich viele Leser wünsche, denn es hält uns vor Augen, dass wir angesichts der Lebenszustände in Krisen- und Kriegsgebieten in vielen Teilen der Welt nicht wegschauen dürfen. Und wenn es wie in diesem Jugendroman gelingt, das spannend und einfühlsam zu vermitteln, ist das ein Glücksfall.

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(Ulf Cronenberg, 02.04.2020)

Lektüretipp für Lehrer!

Alan Gratz hat ein Buch geschrieben, das sich aus vielfältigen Gründen sehr gut in der Schule als Lektüre einsetzen lässt. Zum einen ist das Buch spannend, was jugendliche Leser/innen bei der Stange hält. Zum anderen bietet das Buch sowohl für Jungen wie auch Mädchen Identifikationsfiguren und dürfte somit ein Buch sein, das in der ganzen Klasse gut ankommt. Am wichtigsten ist jedoch, dass der Roman ein aktuelles Thema aufgreift und zugleich Leser die historische Dimension des Flüchtlingsthemas aufzeigt. Das Buch in ein ganzes Projekt einzubinden, in dem es um Flüchtlinge geht – am besten fächerübergreifend –, macht besonders Sinn.


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Kommentar (1)

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