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Buchbesprechung: Gabi Kreslehner „Nils geht“

Cover: Gabi Kreslehner „Nils geht“Lesealter 14+(Tyrolia-Verlag 2020, 139 Seiten)

Von Gabi Kreslehner habe ich bisher alle Jugendbücher (und zwei Erwachsenenromane) gelesen. Der Grund dafür ist, dass die österreichische Schriftstellerin immer besondere Bücher schreibt: sprachlich ausgefeilt, mit Ecken und Kanten, nicht immer über einfache Themen. Nach fast vier Jahren Funkstille ist vor kurzem „Nils geht“ erschienen – mit einem interessanten grafisch reduzierten Cover, das allerdings eher an ein Kinderbuch erinnert. Das Thema ist jedoch eindeutig nichts für Kinder: Es geht um fieses Mobbing.

Inhalt:

Nils könnte man als Nerd bezeichnen: Er ist gut in der Schule, interessiert sich für viele Themen; und er ist von Statur her eher klein und kommt schüchtern und zurückgezogen rüber. Damit fällt er in seiner Klasse nicht nur auf, sondern ist Zielscheibe für drei Schüler: Jo, Rasmus und Fadi. Es ist vor allem Jo, der die Fäden hinter allem zieht: ein Junge aus einer Unternehmerfamilie, reich und erfolgreich. Zu dem Mobber-Trio gesellt sich außerdem noch die hübsche Mila, in die Jo verliebt ist.

Es ist der Mathe-Lehrer Paulsen, der eine besondere Idee hat: Mila wird das Klassenziel nicht erreichen, wenn ihre letzte Klassenarbeit im Schuljahr nicht deutlich besser ausfallen wird; deswegen empfiehlt der Lehrer, dass Nils ihr doch Nachhilfe geben könnte. Das finden beide anfangs eine seltsame Idee, aber sie treffen sich und verstehen sich nach und nach immer besser. Nils kann Mila außerdem Mathe besser beibringen als der Lehrer, und als Mila schließlich in der nächsten Prüfung eine bessere Note schreibt und das Jahresziel erreicht, ist sie überglücklich.

Doch jemand anderem passt es gar nicht, dass Mila sich mit Nils trifft: Jo ist gekränkt, wo er Mila doch schon so lange hinterherläuft. Er will Rache üben: So stiftet er zwei Mitschüler, die das dann durchführen, an, Nils an einem Montag nach der Schule aufzulauern und fertig zu machen. Rasmus filmt das Ganze. Die Schule schreitet, als das publik wird, zwar ein, aber letztendlich hat das für die Mobber keine Folgen. Weil Nils das alles nicht mehr aushält, macht er auch etwas, was er hinterher bereut …

Bewertung:

Mobbing ist ein Thema, das recht häufig in Jugendliteratur aufgegriffen wird, und Gabi Kreslehner hat das auf ihre ganz eigene Art getan. Der Roman beginnt damit, dass man Verhörprotokolle liest – hauptsächlich mit Sara, einer Mitschülerin von Nils, die früher mit ihm befreundet war, ihn aber seit einiger Zeit meidet, weil sie ihn inzwischen peinlich findet. Aus den Protokollen kann man nur ableiten, dass irgendwas mit Nils passiert ist, Genaueres erfährt man aber erst mal nicht. Sara stellt immer wieder – fast gebetsmühlenartig – dar, dass sie nichts unternehmen konnte, obwohl ihr alles leid tut. Nach diesem 12-seitigen Einstieg wird dann die Geschichte normal und chronologisch erzählt – die Verhörprotokolle (es ist nicht klar, wer die Gespräche führt) unterbrechen die Geschichte jedoch immer wieder.

Was das Mobbing angeht, so ist Gabi Kreslehner eine genaue Beobachterin und Chronistin. Da sind zum einen die Täter: Jo, Fadi und Rasmus fühlen sich mächtig, indem sie Nils auflaufen lassen; und als Jo narzisstisch gekränkt wird, weil Mila sich mit Nils trifft, spitzt sich alles zu. Da gibt es zum anderen die Mitläufer: zwei Mitschüler, die Nils im Auftrag fertigmachen; oder Sara, die sich zu schwach fühlt, um einzugreifen und Nils zu verteidigen. Die Hauptfiguren im Roman sind neben Sara in den Verhörprotrokollen Nils und Mila; der eine ist das Opfer, die andere eine vielschichtige Person, die sich im Laufe der Geschichte wandelt.

Alles, was im Buch beschrieben wird, ist prototypisch fürs Mobbing – dazu gehört vor allem, dass das Opfer sich irgendwann aus lauter Hilflosigkeit rächt und dann auf einmal als Täter angesehen wird. Nils, der mit dem, was er dann tut, selbst nicht zurechtkommt, haut daraufhin ab und versteckt sich (daher auch der Buchtitel). In Nils‘ Seelenlage kann man sich immer gut einfühlen, während einem die drei Täter in keiner Weise sympathisch sind. Zwar erfährt man auch bei ihnen einiges über die familiären Hintergründe, aber verständlich macht das ihr Handeln nicht.

Die interessanteste Figur, die zugleich etwas sperrig ist, ist für mich Mila. Anfangs gehört sie quasi mit zum Täter-Trio, doch durch die Nachhilfe bei Nils verändert sie ihr Bild von ihm. Das ist nachvollziehbar gehalten, als Nils jedoch in ihr noch mehr als nur eine Freundin sehen will, kann Mila diesen Schritt nicht mitgehen – auch das ist verständlich. Zu Mila gehört jedoch auch eine Begebenheit, die ich anfangs etwas skurril fand, die mir aber zunehmend gut gefallen hat: Sie hat in dem großen Garten von Jos Familie einen Kräutergarten angelegt, der für sie immer wichtiger wird, den sie hegt und pflegt. Auf Milas Gärtnerleidenschaft kann man sich anfangs keinen Reim machen, aber sie rührt einen zunehmend an, und am Ende weiß man, dass das alles metaphorisch oder sogar allegorisch zu verstehen ist. Darin spiegelt sich unter anderem Milas Weiterentwicklung von einem oberflächlichen zu einem mitfühlenden Menschen wider – das ist zumindest meine Interpretation.

Woran ich mich in dem Buch am meisten gerieben habe, ist die recht altbackene Beschreibung einer Schule und ihrer Lehrkräfte. Der Mathelehrer will lieber wegschauen, als etwas gegen das Mobbing tun, eine junge Lehrerin wird hilflos dargestellt, sie wird zugleich von anderen als idealistisch und naiv angesehen; der Direktor will alles vertuschen, es könnte ja was an die Öffentlichkeit dringen. Mein Bild von Schule heute ist inzwischen jedenfalls ein anderes: dass viele Schulen durchaus bei Mobbing reagieren. Aber es mag natürlich sein, dass das längst nicht für alle Schulen gilt. Und Gabi Kreslehner relativiert dieses Bild zumindest mit ihrem Buchende ein Stück weit.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ich bin nicht gleich warm geworden mit Gabi Kreslehners neuem Jugendroman, aber je länger ich gelesen habe, desto besser fand ich das Buch. Den Eigensinn von Gabi Kreslehners Büchern (im positiven Sinn) findet man auch in „Nils geht“. Es ist weniger die sprachliche Eigenwilligkeit, die das Buch auszeichnet (sie ist diesmal im Vergleich zu anderen Romanen Kreslehners etwas zurückgenommen), als die Art zu erzählen: mit den eingestreuten Verhörprotokollen.

Ein eingängiges Buch ist „Nils geht“ sicher nicht – aber das hatte ich auch nicht erwartet. Doch was das Buch – literarisch gut verpackt – bietet, ist ein gelungener Blick auf das Thema Mobbing, der differenziert die Dynamik, die dahinterstehen kann, darstellt: Täter, die kein Unrechtsbewusstsein haben, die nicht aus zerrütteten Familien zu kommen scheinen; ein Opfer, das nett, aber ziemlich hilflos ist; dazwischen Personen, die nicht wissen, was sie gegen das Mobbing tun sollen. Und typisch: Die Erwachsenen kümmern sich nicht wirklich darum, bekommen das meiste auch gar nicht mit. Wie man Nils helfen kann, wie man intervenieren könnte, das wird in dem Buch nicht wirklich thematisiert. Das kann man kritisieren, man kann es aber auch als Anregung verstehen, sich selbst darüber Gedanken zu machen. Wegschauen und negieren kann es jedenfalls nicht sein …

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(Ulf Cronenberg, 20.03.2020)

Lektüretipp für Lehrer!

Ich fürchte, dass „Nils geht“ nicht unbedingt ein Buch ist, das bei vielen Jugendlichen gut ankommt. Aber es ist und wäre wichtig, über das Thema Mobbing mit Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen, und das geht mit diesem recht kurzen Roman ganz sicher. Es kann jedoch nur funktionieren, wenn das Ganze im Unterricht gut aufbereitet wird, wenn die Lehrkraft alles mit Enthusiasmus zu vermitteln weiß – und das heißt vor allem, dass man klarmachen kann, wie viel „Nils geht“ mit dem wirklichen Leben und der Erfahrungswelt von Jugendlichen zu tun hat. Das dürfte vor allem im Rahmen eines Projekts zum Thema Mobbing gelingen – mit „Nils geht“ am besten in der zweiten Hälfte der 8. oder zu Beginn der 9. Klasse, und am ehesten in Realschule und Gymnasium. Und noch ein kleiner, weiterführender Literaturtipp: Die ganze Dynamik von Mobbing wird meiner Meinung nach noch ausführlicher in Bettina Obrechts „Opferland“ dargestellt – der Roman hat allerdings auch fast 300 Seiten.


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