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Buchbesprechung: Marisha Pessl „Niemalswelt“

Cover: Marisha Pessl „Niemalswelt"Lesealter 14+(Carlsen-Verlag 2019, 379 Seiten)

Für den Jugendbuchbereich ist Marisha Pessls „Niemalswelt“ ein Debüt, die amerikanische Autorin hat aber bereits einen Erwachsenenbestseller geschrieben. Wie der Titel schon sagt, spielt der Roman nur bedingt in einer realen Welt. Als „Zeitschleifen“-Psychothriller wird das Buch vom Carlsen-Verlag auch bezeichnet, ein Roman, in dem sich also immer wieder gleiche Szenen wiederholen. Mir fiel da gleich Lauren Olivers „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ ein, in dem die Hauptfigur mehrmals den gleichen Tag durchlebt – in „Niemalswelt“ wird das Ganze allerdings auf die Spitze getrieben …

Inhalt:

Seit ihr Freund Jim auf tragische, aber ungeklärte Weise ums Leben gekommen ist, hat sich Bee aus ihrem bisherigen Leben zurückgezogen. Die früheren Freunde, mit denen sie im Internat war, hat sie lange nicht mehr gesehen, doch dann läuft ihr Whitley über den Weg. Diese lädt Bee zu einer Feier ein, zu der auch die drei weiteren Freunde aus ihrer früheren Clique kommen sollen. Mit einem unguten Gefühl geht Bee wirklich zu der Feier, und dort sind alle überrascht, sie zu sehen.

An dem Abend fahren sie gemeinsam zu einem Konzert, doch dort läuft alles schief. So flüchten sie und fahren Hals über Kopf nach Hause, es kommt auf der Straße bei starkem Unwetter fast zu einem Unfall … Am Ende erreichen sie die Villa von Whitleys Eltern völlig durchnässt, und dort gibt es eine Überraschung. Ein unheimlicher Typ klingelt an der Tür und erklärt ihnen, dass sie alle tot seien. Die Fünf halten das für einen schlechten Scherz. Der Mann korrigiert sich kurz darauf: Sie wären fast alle tot, nur einer von ihnen würde überleben, allerdings erst, wenn sie sich in einer Abstimmung auf einen von ihnen einigen. Bis sie das geschafft haben, würden sie den gleichen Tag immer wieder durchleben.

Was sie anfangs absolut nicht glauben können, entpuppt sich bald als wahr. Immer wieder wachen sie am gleichen Tag auf und haben knapp circa 11 Stunden, bevor ihre Wachzeit, kurz Wache genannt, vorüber ist. Mit allem, was ihnen einfällt, wehren sie sich gegen das Szenario, versuchen der Situation zu entkommen … Doch es hilft nichts. Egal, was sie tun, immer wieder wachen sie im gleichen Moment auf, können aber den Tag dann jeweils ganz anders verbringen. Und davon machen alle Fünf auf ganz unterschiedliche Weise Gebrauch …

Bewertung:

Das Szenario von „Niemalswelt“ (Übersetzung: Claudia Feldmann; amerikanischer Originaltitel: „Neverworld Wake“) dürfte ziemlich polarisieren – aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen ist die Idee mit dem vielfach durchlebten Tag und dem schrägen Sensemann schon ziemlich verrückt. Da wird nicht wie in dem oben erwähnten Buch von Lauren Oliver ein Tag ein paar Mal durchlebt, nein, Bee, Whitley, Martha sowie Cannon und Kip (die ersten drei sind Mädchen) erleben den Tag tausende Male. Zum anderen ist das Buch in vielem sehr amerikanisch, was die Jugendlichen und ihr Verhalten angeht und damit sicher auch nicht jedermanns Sache. Whitley zum Beispiel kommt aus einem sehr reichen Haus, schwimmt quasi im Wohlstand, und sie ist nicht die Einzige im Quintett – bis auf Bee und Martha, die noch am normalsten sind, sind alle ziemlich verwöhnte Jugendliche mit Luxusproblemen. Für Bee gilt das nicht: Ihre Eltern haben auf Long Island ein Café, und dort hilft das Mädchen häufig aus. Als recht amerikanisch können auch der Schreibstil, der einem vor allem am Anfang ein wenig affektiert und hysterisch erscheint (man gewöhnt sich jedoch daran), sowie die Figuren gelten.

Warum das Buch als Psychothriller bezeichnet werden kann, wird einem bald klar: Die Gruppendynamik zwischen den eher vordergründig guten Freunden nimmt schon bald Fahrt auf. Im Laufe des Buchs stellt sich heraus, dass sie sich alle nicht gut gekannt haben, denn jeder von ihnen muss mindestens ein gut gehütetes Geheimnis preisgeben. Wie die Fünf sich außerdem gegenseitig mitspielen, sich immer wieder auszutricksen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, bringt einigen Zündstoff in die Geschichte. Nur ganz am Anfang verbringen die Fünf den wieder durchlebten Tag gemeinsam, schon bald trennen sich ihre Wege: Teils sind sie alleine unterwegs, teils verbünden sich zwei von ihnen. Die vom „Sensemann“ geforderte Abstimmung verlieren sie fast alle zunehmend aus den Augen, indem sie sich in verschiedenste Ablenkungen flüchten.

Bee ist in dem Roman die Erzählerin, aus ihrer Perspektive erlebt man alles. Sie hat von allen im Buch die größte Not, weil es ihr nach wie vor wegen Jims Tod – er war früher ja Teil der Clique – alles andere als gut geht. Es dauert ein bisschen, aber irgendwann merkt Bee, dass der Schlüssel zum Weiterkommen darin liegt, dass die Gruppe Jims tragischen Tod aufklärt. Doch darum scheint sich niemand kümmern zu wollen. Im Gegenteil: Es kommen zunehmend Thriller-Elemente in den Roman, weil dem Wunsch nach Aufklärung von Jims Tod handfeste Interessen der Beteiligten gegenüberstehen: dass ihre Geheimnisse nicht aufgedeckt werden. Und so spielen sie sich zum Teil übel mit.

Was man, damit einem das Buch gefällt, akzeptieren muss, ist das Grundszenario mit der Zeitschleife. Wehrt man sich dagegen, wird man ständig in dem Roman nach Unstimmigkeiten suchen; und ich schätze es so ein, dass man da schnell fündig würde, denn vieles, was im Lauf der Geschichte passiert, ist schon sehr abstrus. Um ein Beispiel zu nennen. Irgendwann will die Gruppen ein Auto klauen, um damit wegfahren zu können – doch dafür brauchen sie den Schlüssel des Wagens. So wird in zahlreichen Versuchen per Trial & Error ausgetüftelt, wie die Gruppe vorgehen muss. Es dauert mehr als 100 Versuche, also Tage, bei denen immer jemand von ihnen vom waffenbesitzenden Vater erschossen wird, bis sie es durch einen Zufall hinkriegen, den Schlüssel unbeschadet zu entwenden. Das hat etwas von einem Computerspiel, bei dem man ein Level überleben muss, aber immer wieder scheitert.

Und das Ende des Buchs? Jims Tod wird irgendwann aufgeklärt – klar … Die Erklärung kommt unerwartet, ist aber fast etwas platt. Doch damit nicht genug. Es folgt noch ein anderes unerwartetes Ende, und das ist schon wieder so banal, dass es gut ist. Und der Überraschungseffekt ist Marisha Pessl gelungen.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Niemalswelt“ ist in vielem ein fulminanter Roman: grotesk, aberwitzig, skurril. Er beinhaltet aber vor allem ein interessantes Gedankenspiel: Was passiert, wenn man den gleichen Tag fortlaufend wieder zu durchleben hat? Wird man träge, hoffnungs- und antriebslos, probiert man sich aus und erweitert seinen Horizont oder bleibt man in Routinen stecken? All das tun Bee, Whitley, Martha sowie Cannon und Kip phasenweise. Weil sie ja mehrere tausendmal den Tag durchleben, können sie vieles ausprobieren. Doch so interessant das Szenario ist: Lauren Olivers oben erwähnter Zeitschleiferoman beinhaltet eine Botschaft. Marisha Pessl nutzt die Idee jedoch leider nur zur Unterhaltung – niemand ist geläutert, nichts will dem Leser gesagt werden. Der Roman entsagt sich einer Aussage, weil er am Ende eben nur auf das Rätsel um Jims Tod und die Abstimmung, wer weiterleben darf, zusteuert. Und das ist schade.

Dennoch sei für das Szenario eine kleine Lanze gebrochen, weil es etwas Besonderes ist. Wenn der Roman noch etwas ernster das Philosophische über das Unterhaltende gestellt hätte, und nicht umgekehrt, hätte er grandios werden können – das hat Marisha Pessl leider nicht getan. Dennoch: Man kann mit dem Buch Lesespaß haben, sofern man dessen Grundidee akzeptieren kann, und dann ist man in dem Buch gefangen, bis man es ausgelesen hat.

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(Ulf Cronenberg, 18.01.2020)


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