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Buchbesprechung: Frank Maria Reifenberg „Wo die Freiheit wächst“

Cover: Frank Maria Reifenberg „Wo die Freiheit wächst“Lesealter 14+(Verlag arsEdition 2019, 335 Seiten plus Anhang)

Was gab es früher viele Jugendbücher, die thematisch etwas mit dem Dritten Reich zu tun hatten. Mein Eindruck ist, dass es in den letzten Jahren weniger geworden sind. Frank Maria Reifenberg hat sich von daher auf zweierlei Weise an etwas eher Altmodisches gewagt: Ein Roman, der im Dritten Reich spielt, wird vielleicht vordergründig als nicht so ganz aktuell angesehen – ich würde das angesichts eines wieder erschreckend lauter werdenden Rechtsradikalismus allerdings in Zweifel ziehen. Außerdem ist „Wo die Freiheit wächst“ ein Briefroman – ein heute eher seltsam vorkommendes Format. Kein Wunder: Briefe sind ja auch aus der Mode.

Inhalt:

Frühjahr 1942. Köln wird immer wieder von den Engländern bombardiert, und das Leben in der Stadt wird immer schwieriger. Lene ist 16 Jahre alt, lebt mit ihrer Mutter, ihrem nur wenig jüngeren Bruder Kalli sowie ihren zwei kleinen Schwestern in Nippes, einem Kölner Stadtteil. Sie selbst hat gerade eine Ausbildung als Friseurin angefangen, ihr großer Bruder Franz ist eingezogen worden und marschiert mit den deutschen Truppen in Richtung Stalingrad. Und was Lenes Vater angeht, so ist er verschollen – ob er noch lebt, weiß Lene nicht.

Durch einen Zufall begegnet Lene Erich, den sie noch aus der Schule kennt. Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut, sind voneinander angezogen und wollen sich deswegen wieder treffen. Lene bekommt bald mit, dass Erich sich mit anderen Jugendlichen und jungen Männern trifft, die mit den Nazis nichts am Hut haben und systemkritisch sind. Erich versucht Lene davon fernzuhalten, doch sie will über alles Bescheid wissen, was Erich angeht. Als auch bei ihr nach und nach die Begeisterung für das Dritte Reich nachlässt, wird sie in der Gruppe – die sich später Edelweißpiraten nennt – aktiver und begibt sich damit in Gefahr.

Gleichzeitig gibt es einige andere Probleme: Lenes beste Freundin Rosi ist nicht mehr in Köln; Rosi bekommt durch einen intensiven Briefwechsel zwischen beiden mit, was bei Lene alles passiert. Rosi versteht nicht, warum Lene sich solchen Gefahren aussetzt. In Lenes Familie spitzt sich außerdem vieles zu. Auch wenn Franz sich in seinen Briefen von der Ostfront vorsichtig ausdrückt und Lene schonen will: Lene ist bewusst, dass es Franz nicht gut geht. Sie hat große Angst um ihren Bruder. Ihr kleinerer Bruder Kalli dagegen wird zunehmend begeisterter vom Nationalsozialismus und ist davon nicht abzubringen. Ja, Lene hat sogar Angst, dass er sie verpetzen könnte …

Bewertung:

Die Edelweißpiraten, wie sich die Gruppe um Lene und Erich irgendwann nennt, gab es wirklich. Im Nachwort von Frank Maria Reifenberg steht, dass eine reale Person von früher auch in dem Buch auftaucht – doch die anderen Figuren im Buch sind erfunden. Das ginge wohl auch nicht anders, weil es wahrscheinlich nicht genug Material von den echten Edelweißpiraten gibt, mit denen sich ein Buch authentisch füllen ließe. Es haben nur wenige der Edelweißpiraten überlebt und später von ihren Erfahrungen berichtet – darunter die im Buch am Rande auftauchende Gertrud „Mucki“ Koch, die eine Autobiografie veröffentlicht hat. Worum sich Frank Maria Reifenberg trotzdem bemüht hat, ist die korrekte Wiedergabe vieler historischer Rahmenbedingungen.

Ja, Briefromane sind etwas altmodisch, und das war auch der Grund, warum ich das Buch erst mal etwas liegen gelassen habe. Ich war noch nie ein großer Freund von Briefromanen, es gibt wenige Ausnahmen, die ich verschlungen habe. Und am Anfang des Buchs, als man in die Geschichte eingeführt wird, hat mich das Buch auch nicht so richtig gepackt. Dass es fast 100 Seiten gedauert hat, bis ich das erste Mal einen Sog gespürt habe, dass ich wissen wollte, wie die Geschichte weitergeht, ist für mich ein Zeichen, dass der Einstieg im Buch etwas zu lange dauert. Ja, man kann natürlich entgegnen, dass erst mal die Situation während des Dritten Reiches vor der Zuspitzung aufgezeigt werden soll … Aber wenn ich da schon etwas zögerlich beim Weiterlesen bin, geht das bestimmt auch einigen Jugendlichen so.

Neben Lene, Franz und Erich ist Rosi, Lenes beste Freundin, die vierte Hauptfigur. Sie hält sich zu Beginn in Detmold auf und arbeitet dort auf einem Gut, wird aber schließlich von dort nach Strehlen südöstlich von Breslau verschickt. Wenn man das liest, läuft einem erstmals ein kleiner Schauer über den Rücken, weil das Zwangsverschicken an einen anderen Ort auch etwas damit zu tun, dass Rosi über Lene und deren Briefe von SA-Leuten verhört wird. Da zeigt sich im Buch ein erstes Mal, wie gefährlich jegliches Kritikdenken im Nationalsozialismus war. Spitzel sind überall, die Post wird nicht selten von anderen gelesen, und deswegen begeben sich Rosi und Lene in große Gefahr, wenn sie sich über Brief austauschen. Rosi äußert und schilt Lene immer wieder für deren unvorsichtige Offenheit, aber Lene braucht dringend jemanden, dem sie sich mitteilen kann. Als Leser wird man da mit reingezogen und ahnt, dass Lenes Berichte irgendwann in eine Katastrophe münden werden …

Was Frank Maria Reifenberg sehr geschickt macht: Die furchtbaren Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs werden für die jüngeren Leser abgemildert. Das ist der Vorteil eines Briefromans: dass eben alles aus Sicht der jugendlichen Hauptfiguren beschrieben wird, dass außerdem aufgrund der Angst vor der Bespitzelung manches nur verharmlost wiedergegeben werden kann. Gerade Franz darf als Soldat in der Feldpost nach Zuhause nur andeuten, wie schlimm es an der Ostfront wirklich ist – aber auch so reichen einem Furcht und Schrecken, die dadurch verbreitet werden.

Jedenfalls kann man beim Lesen von „Wo die Freiheit wächst“ sehr gut erahnen, wie schlimm die Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs war: die ständigen Bombenangriffe der Alliierten auf größere Städte, die Versorgungsnot, die Angst um Angehörige, der ständig nahe Tod, dass Nachbarn, Freunde und Bekannte dem Krieg und den Bomben zum Opfer fallen … Lene hält da auf bewundernswerte Weise den Kopf über Wasser, aber verzweifelt trotzdem zunehmend. Dass alles authentisch wirkt, liegt daran, dass sich Frank Maria Reifenberg in den Schreibduktus des Dritten Reiches eingelesen hat und ihn mit heute eher nicht mehr gebräuchlichen Wörtern und Formulierungen aufleben lässt. Das ist ein gar nicht so einfaches Unterfangen, das meiner Meinung nach aber gut gelungen ist. Sprachschnitzer mit Wörtern, die es damals gar nicht gab, sind mir zumindest nicht aufgefallen – allerdings bin ich da sicher auch kein Experte.

Doch jenseits dieser vielen positiven Punkte, die für den Roman sprechen, gibt es doch etwas, was ich mir gewünscht hätte. Ich glaube, man hätte den Roman pointierter schreiben können. Hätten 200 Seiten nicht gereicht? Hätten die Briefe nicht reduzierter sein können? Da wird vieles ausführlich geschildert – was den den Vorteil hat, dass der Alltag sichtbar wird, dass die Figuren erfahrbar werden, aber es birgt insofern auch eine Unglaubwürdigkeit, als wohl niemand in einer Zeit, wo man ums Überleben kämpfen musste, so lange Briefe geschrieben hätte. Ich glaube jedenfalls, dass der Geschichte eine Konzentration auf das Wesentliche gut getan hätte, dass sie den Roman auch leichter vermittelbar gemacht hätte.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Wie schon in anderen Worten gesagt: „Wo die Freiheit wächst“ ist ein Buch, das ein wenig aus dem momentanen Zeitgeist fällt, weil es als Briefroman eine Form wählt, die Jugendlichen heute eher fremd ist. Das ist mutig; und es ist auch gut, dass es Bücher gibt, die sich nicht immer aktuellen Trends beugen. Frank Maria Reifenbergs Jugendroman legt jedenfalls ein fiktives, aber dennoch authentisches Zeugnis vom Dritten Reich ab, er beschreibt, wie es Jugendlichen, die sich vom Nationalsozialismus distanziert haben, gegangen ist. Wir brauchen solche Bücher, die Geschichte erfahrbar machen und lebendig halten.

Bedenken, dass der Roman bei Jugendlichen nur begrenzt ankommt, habe ich trotzdem – und das liegt auch an seiner Ausführlichkeit. In das Buch muss man sich reinlesen, man braucht Durchhaltevermögen; ich hätte mir den Roman pointierter gewünscht. Dann wäre er vielleicht auch besser im Schulunterricht zu verwenden gewesen, wo er thematisch ja durchaus gut einzusetzen wäre. Aber fast 400 Seiten und eine flach ansteigende Spannungskurve sind schwer zu vermitteln. So richtet sich „Wo die Freiheit wächst“ vor allem an jugendliche Viel- und Schnellleser, die geschichtlich interessiert sind, und natürlich auch an Erwachsene, für die als Zielpublikum aber manches dann noch deutlicher hätte dargestellt werden können.

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(Ulf Cronenberg, 01.12.2019)

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