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Buchbesprechung: „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“

Cover "Imagine Africa 2060"Lesealter 16+(Peter-Hammer-Verlag 2019, 174 Seiten plus Anhang)

Es gibt eine rege afrikanische Literaturszene, auch wenn davon manchmal wenig in deutschen Buchläden ankommt. Christa Morgenrath und Eva Wernecke – beide fördern seit vielen Jahren afrikanische Literatur – haben in einem Sammelband etwas Besonderes zusammengestellt: Enthalten sind zehn Kurzgeschichten verschiedener afrikanischer Autorinnen und Autoren, in denen es darum geht, wie das Leben auf dem Kontinent im Jahr 2060 aussehen könnte. „Imagine Africa 2060″ ist kein explizit für Jugendliche geschriebenes Buch, aber eines, das vielleicht manch älteren Jugendlichen trotzdem interessieren könnte.

Afrika ist ein Kontinent im Umbruch. Die Kolonialzeit liegt, was Afrika angeht, mehr als 50 Jahre zurück, die negativen Auswirkungen davon – Länder mit politisch instabilen Verhältnissen, Armut und Hunger, Ressourcenausbeutung und anderes – sind noch immer in vielem zu sehen und spüren … Doch sich nur darauf zu beziehen, wäre ein Fehler. Afrika ist ein vielfältiger Kontinent, in dem sich vieles tut, in dem es auch positive Entwicklungen gibt. Wenn afrikanische Autorinnen und Autoren darüber nachdenken, wie ihr Land bzw. ihr Kontinent in gut 40 Jahren aussehen könnte, so verspricht das Spannendes.

Zu „Imagine Africa 2060“ haben zehn Autorinnen und Autoren aus zehn afrikanischen Ländern je eine Geschichte beigesteuert – nämlich:

  • José Eduardo Agualusa (Angola)
  • Ellen Banda-Aaku (Sambia)
  • Ken Bugul (Senegal)
  • Aya Cissoko (Mali)
  • Youssouf Amine Elalamy (Marokko)
  • Tendai Huchu (Simbabwe)
  • Sonwabiso Ngcowa (Südafrika)
  • Okwiri Oduor (Kenia)
  • Nii Ayikwei Parkes (Ghana)
  • Chika Unigwe (Nigeria)

Dementsprechend groß ist die Vielfalt in den Geschichten. Nehmen wir gleich mal die erste Geschichte: „Als die Welt untergegangen war …“ von José Eduardo Agualusa. Ausgangspunkt für die Kurzgeschichte sind massive Überschwemmungen durch einen Anstieg des Meeresspiegels, die kurz vor dem Jahr 2030 stattgefunden haben: „Das Meer stieg und hat die Erde verschluckt.“ (S. 11) Die Menschen, die überlebt haben – es sind nur sehr wenige –, haben sich in Luftschiffe gerettet, die innerhalb einiger Monate gebaut wurden. Ärmere Menschen leben auf kleinen Luftflößen und Ballons, die miteinander verbunden kleine Dörfer bilden. Sehr viele Menschen sind ums Leben gekommen, weil sie abgestürzt und in den Fluten ertrunken sind.

Die Hauptfigur ist Carlos, der auf einem Zusammenschluss von Flößen namens Luanda geboren wurde und seinen verschollenen Vater sucht. Er trifft sich mit einer Freundin namens Aimée, die im großen Luftschliff Paris lebt. Eine ziemlich bizarre Geschichte ist das, und auch wenn das Szenario mit dem großen Fluten etwas übertrieben scheint, die Idee mit den Luftschiffen und Luftflößen (nach wie vor gibt es Arm und Reich) ist faszinierend und gäbe auch ein packendes Computerspielszenario ab.

Alle Kurzgeschichten des Bandes ordnen sich zwischen Utopie und Dystopie ein – mal eher in die eine, mal eher in die andere Richtung. Zwei Texte fallen in dem Band mit besonders dunklen Zukunftsvisionen auf. Sonwabiso Ngcowas (von dem es übrigens auch ein hier besprochenes Jugendbuch gibt) schildert in „Die Wahrheit“, dass die Hauptfigur Liwe ein ziemlich trostloses Leben am Rande der Gesellschaft führt. Ihre ältere Schwester Zuzu wird durch ein Geschoss verletzt, im Krankenhaus stirbt sie schließlich. Liwe hat einen schlimmer Verdacht: dass ihre Schwester mit Absicht nicht am Leben gehalten wurde, weil man es auf ihre Organe, die man für teures Geld verkaufen kann, abgesehen hat. Und dem versucht sie nachzugehen … Die Geschichte fällt vor allem auf, weil sie umgangssprachlich geschrieben ist und deswegen eine sehr glaubwürdige Erzählerin hat. Für mich ist das eine der besten Geschichten in dem Band.

Tendai Huchus Story „Data Farming“ ist auf ganz andere Art trostlos, weil sie mit Makomborero eine völlig selbstentfremde Hauptperson hat. Makomborero verbringt die Tage (und manchmal auch die Nächte) in seinem Büro, sitzt dort vor Bildschirmen und handelt mit Wertpapieren. Wenn da mal 50 Millionen Dollar Verlust an einem Tag zusammenkommen, nimmt er das gelassen hin – am nächsten Tag macht er vielleicht wieder 100 Millionen Plus. Während sein Vater noch eine landwirtschaftliche Farm ganz traditionell bestellt, will Makomborero nichts damit zu tun haben. Er hält sich lieber umgeben mit einer Roboterassistentin im Büro auf, Aufputschmittel und sonstige Medikamente gehören zum täglichen Überleben … Ein wirklich düsteres Szenario von einem Menschen, der letztendlich nicht mehr zu richtigen menschlichen Beziehungen fähig ist und mit der Natur nichts zu tun haben will.

Die weiteren Geschichten greifen viele Themen auf: sich verändernde Werte, die in verschiedenen Generationen aufeinandertreffen, das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen Nord und Süd, die Heimkehr an den eigenen Geburtsort nach Jahren im Ausland und vieles mehr. Interessant ist auch die letzte Geschichte des Bands, in der das Genderthema eine Rolle spielt: Chika Unigwes „Amara for President“ handelt von einer Präsidentschaftskandidatin namens Amara, die es mit ihrem Mann nicht mehr aushält und sich mitten im Wahlkampf, den sie laut bisheriger Prognosen gewinnen dürfte, von ihm scheiden lassen will. Das Wahlkampfteam rät Amara dringend davon ab, weil die Gesellschaft Nigarias nicht so weit sei. Alle anderen Kandidaten kämen aus heilen Familien, und eine Kandidatin mit zerbrochener Ehe hätte keine Chance … An Amara zeigt Chika Unigwes sehr genau, was es heißt, wenn die persönliche und eine politische Welt aufeinandertreffen und wie schwer es ist, gesellschaftlichen Wandel herbei zuführen.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. „Imagine Africa 2060“ ist kein Buch für Jugendliche per se – aber vielleicht gibt es Jugendliche (ab 16 Jahren, würde ich sagen), die wie ich den Reiz verspüren, mal etwas anderes zu lesen und sich mit den Zukunftsentwürfen afrikanischer Autorinnen und Autoren auseinanderzusetzen. Es lohnt sich. Nicht jeder Text gefällt einem (Ken Buguls Märchen „Utopie“ fand ich zum Beispiel extrem sperrig), aber es sind viele Kurzgeschichten dabei, die gut geschrieben sind, interessante Zukunftszenarien entwerfen und einen zum Nachdenken und ins Grübeln bringen. Gerade die besonders düsteren Geschichten lassen einen mitunter nicht los …

Es gab jedoch auch etwas, das mich an dem Buch ein bisschen gestört hat: die Vorstellungen der Autorinnen und Autoren, die auf jede Kurzgeschichte folgen. Ja, es ist schön, wenn afrikanische Autor/inn/en Erfolg haben, aber wenn auf eineinhalb Seiten alle literarischen Erfolge aufgezählt werden, dann ist es nicht das, was ich über die Verfasser/innen der Texte wissen will. Ich möchte mehr über ihr Leben, über ihre Einstellungen und persönlichen Hintergründe erfahren, und die kommen hier eindeutig zu kurz. Das finde ich etwas schade, aber man kann es verschmerzen und sich auf die Kurzgeschichten konzentrieren. Das Projekt an sich, finde ich weiterhin sehr gelungen, dahinter steht eine tolle Idee. Ich bekäme gleich Lust, einen Sammelband über Deutschland im Jahr 2060 zu lesen, in dem ebenfalls Zukunftsvisionen dargestellt werden …

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(Ulf Cronenberg, 10.11.2019)


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