(Loewe-Verlag 2019, 509 Seiten)
Fast neuneinhalb Jahre ist es her, dass ich Ursula Poznanskis Jugendroman „Erebos“ gelesen habe, und die Buchbesprechung steht derzeit auf Platz 5 der meistgelesenen Buchbesprechungen hier. Ich war damals gar nicht so angetan von dem Buch, weil ich die Computerspielwelt nicht übermäßig packend fand, aber das Buch hatte und hat sehr viele Fans, wurde und wird immer wieder im Deutschunterricht als Lektüre verwendet. Der Grund dafür: Dass Computerspiel und Wirklichkeit ineinandergreifen, ist ein verlockendes Thema, das selbst Lesemuffel zum Lesen bringt. „Erebos 2“, vor einigen Wochen erschienen, führt das fort …
Inhalt:
Nick, eine der Hauptfiguren aus dem ersten Band, ist inzwischen erwachsen, er studiert Fotografie und verdient sich Geld, indem er Fotoaufträge annimmt. Als er im Stau auf dem Weg zu einem Hochzeitsfotoshooting auf sein Handy schaut, wundert er sich: Die Icons auf dem Display sind verschoben, außerdem findet er dort ein neues Icon, das ihm vertraut vorkommt: Erebos, das Computerspiel, das vor vielen Jahren viel Schlimmes angerichtet hat, ist zurückgekehrt. Nick kann es nicht glauben, und er will eigentlich nichts mehr damit zu tun haben.
Doch als er sich später am Abend trotz Aufforderung durch das Spiel weigert, wieder beizutreten, sind auf einmal alle seine Fotos von der Hochzeit vom Computer verschwunden. Das ist eine Katastrophe, und Nick ist sofort klar, dass Erebos dahintersteckt. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als doch in die Welt von Erebos einzutreten, und dort hat er immerhin die Chance, die Fotos zu sammeln und sich zu erkämpfen.
Zur gleichen Zeit kommt auch Derek, ein sechzehnjähriger Schüler, mit dem Spiel in Kontakt. Er hält die Aufforderung, Erebos zu spielen, anfangs für einen Scherz seiner kleinen Schwester, doch schon bald merkt er, dass mehr dahinter steckt. Derek ist fasziniert von dem Spiel – seine Figur, eine Dunkelelfe, nennt er Torqan. Doch es wird unheimlich, als er irgendwann nicht nur im Spiel weiterkommt, sondern vom Spiel auch Aufträge bekommt, die er in seinem wirklichen Leben ausführen soll. Anfangs sind sie harmlos, aber das bleibt nicht so. Und vor allem versteht er gar nicht, was das alles soll …
Bewertung:
Was hier zusammengefasst wird, ist wirklich nur der Beginn der Geschichte, die sich dann doch als sehr komplex darstellt. Die beiden Hauptfiguren, aus deren Sicht durchgängig abwechselnd erzählt wird, sind Nick und Derek, und sie erleben Dinge im realen Leben sowie mit ihren Avataren im Computerspiel. Die Rahmengeschichte wird im Präteritum erzählt, während die Handlung im Spiel Erebos immer im Präsens wiedergegeben wird. Schlau gemacht ist das, weil man sich so mitten im Computerspielgeschehen fühlt und außerdem gut zwischen beiden Ebenen, die grafisch nicht voneinander (z. B. durch unterschiedliche Schriften) abgesetzt sind, unterscheiden kann.
Computerspiele anno 2010 waren natürlich etwas anderes, als sie es heute sind, und so hat Erebos in den knapp 10 Jahren natürlich auch einiges dazugelernt. Nicht nur die Grafikpracht ist – Nick hat den Vergleich – deutlich beeindruckender, Erebos hat sich zu einer künstlichen Intelligenz entwickelt, die beängstigende Ausmaße angenommen hat: Das Spiel kann nicht nur Computer und Handys steuern, über die Geräte Gespräche belauschen, alle Schritte der Spieler überwachen und sich in Überwachungskameras hacken – nein, es hat jetzt auch eine Sprachausgabe und kann vor allem Stimmen so imitieren, dass niemand einen Unterschied bemerkt. Wenn Erebos sich am Telefon zum Beispiel als Nick ausgibt, mit dessen Stimme spricht und so anderen Nachrichten hinterlässt, die Nick schaden, so ist das ganz schön unheimlich. In der Wirklichkeit sind wir im Jahr 2019 nicht ganz so weit, aber man kann sich vorstellen, dass Computer solche Dinge irgendwann beherrschen. Puh.
Sehr geschickt greifen die zwei Erzählstränge ineinander, und im Gegensatz zum Band 1 fand ich diesmal die Computerspielwelt auch wesentlich packender und plausibler. Überhaupt braucht Band 2 im Gegensatz zum etwas trägeren Beginn von Band 1 nur wenige Seiten, bis man mittendrin in der Geschichte ist: Erebos zeigt sich bereits auf der zweiten Textseite – da wird nicht lange gefackelt, und das ist gut so. Die Einführungsinfos bekommt man etwas später nachgeliefert. Langweilig wird das Buch von daher eigentlich an keiner Stelle – am meisten Zug hat es jedoch auf den letzten 200 Seiten, die ich in fast einem Rutsch durchgelesen habe.
Wie schon im Jahr 2010 war ich etwas verwundert darüber, dass die „Erebos“-Bücher in London und nicht in einer deutschsprachigen Stadt spielen. Das ist mir noch immer ein Rätsel – aber gut, die Stadt an sich ist unwichtig und bleibt auch eher blass. Und die sonstigen Orte in dem Roman wie das Internat, das am Ende eine Rolle spielt, scheinen erfunden zu sein – zumindest, was die Namen angeht.
Dem Grundkonzept bleibt „Erebos 2“ treu: Die Verzahnung zwischen Computerspielwelt und Realität ist der Hauptmotor des Buchs, und man kann dem Buch manchmal leichte Thriller-Elemente attestieren. Bis kurz vor dem Ende weiß man nicht, wie hier alles zusammenhängt, wer hinter dem Wiedererwachen von Erebos steht und was das Programm eigentlich will. Nick versucht das natürlich herauszufinden, aber Erebos ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, sein Wirken zu vertuschen, und macht es ihm schwer. Dass die Auflösung am Ende etwas mit menschenfreundlichen Motiven zu tun hat, ist etwas überraschend. „Erebos 2“ ist politisch korrekt – es geht den „Bösen“ an den Kragen.
Neben Nick und Derek treten viele weitere Figuren in „Erebos 2“ auf, und zwei sachte Verliebtheitsgeschichten sind auch enthalten – auf Dereks wie auf Nicks Seite. Was man bei genauerem Hinsehen doch kritisch anmerken kann, ist, dass die Figuren nicht wirklich tief gezeichnet sind. Sie machen sich nicht groß Gedanken über das Leben, bleiben bei dem, was um sie herum passiert – sie kommen somit etwas eindimensional rüber. Aber letztendlich ist Tiefsinn auch nicht das, was „Erebos 2“ bieten will. Der Jugendroman hat Spannung, er will mit dem raffinierten Plot Lesespaß bieten, und er wirft Fragen auf, inwiefern Computerspiele und Realität auch in unserem Leben verzahnt sind.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Gut unterhalten wird man mit „Erebos 2“ in jedem Fall, und wenn man selbst den Reiz von Computerspielen kennt, kann man vieles in dem Buch sicher besser verstehen, als wenn man damit gar nichts am Hut hat. Ist der Roman eigentlich auch kritisch Computerspielen und künstlicher Intelligenz gegenüber? Will er vor technischen Entwicklungen warnen? Schwer zu sagen. Mein Eindruck ist, dass die Themen eher genutzt werden, um Spannung zu erzeugen, als dass sich dahinter eine kritische Botschaft versteckt. Wenn man „Erebos 2“ mit Jugendlichen gemeinsam liest, so kann man zumindest gut über Computerspiele und künstliche Intelligenz diskutieren; und ich gehe davon aus, dass der neue Roman von Ursula Poznanski erneut viele Leser finden wird – darunter auch Jugendliche, die sonst eher wenig zu Büchern greifen.
Wo wir wohl in knapp 10 Jahren stehen, was Computerspiele und künstliche Intelligenz angeht? Es wäre interessant, dann einen Band 3 zu lesen … – und nicht schon, weil sich das Buch gut verkauft, übernächstes Jahr. Es sind die technischen Entwicklungen mit dem Vergleich über fast ein Jahrzehnt hinweg, die den zweiten Band auch interessant machen. Es ist gut, dass Ursula Poznanski erst 2019 der Versuchung erlegen ist, einen Folgeband zu schreiben.
(Ulf Cronenberg, 31.08.2019)
P. S.: Wer Band 1 nicht kennt, kann „Erebos 2“ eindeutig trotzdem lesen, auch wenn ab und zu Bezüge zum Vorgänger vorhanden sind. Mehr davon hat man aber sicher, wenn man mit dem Szenario und einem Teil der Figuren vertraut ist – wobei bei mir die Erinnerung nach neun Jahren stark verblasst war.
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Was mich an diesem Buch gestört hat: Erebos ist viel zu mächtig. Wenn Erebos unter fremden Namen telefonieren kann, dann kann es das ganze Problem mit ein, zwei Anrufen lösen, und muss nicht eine Armee freiwilliger und unfreiwilliger Spieler in einem komplexen Plan einspannen.
Tatsächlich ist dies typisch für Poznanski: In fast allen ihren Bücher basiert die Spannung auf einem geheimen, komplizierten Plan, der sich dem Leser erst gegen Ende erschließt. In vielen Fällen ist der Plan unnötig kompliziert, aber in diesem Buch ist das besonders auffällig.