(Fischer-Verlag 2019, 138 Seiten)
Das Thema Flüchtlinge ist in den letzten Jahr wieder etwas aus unserem Bewusstsein verschwunden, was auch daran liegt, dass Europa sich inzwischen recht erfolgreich abgeschottet hat. Es sind deutlich weniger Flüchtlinge als vor 3 Jahren, die dieses und letztes Jahr nach Deutschland kamen. Im Jahr 2016 hatten fast 750.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt, 2018 waren es unter 200.000. Doch noch immer gibt es Flüchtlingslager, oft jedoch weit weg von Deutschland im Süden. In einem Flüchtlingslager, wo genau weiß man nicht, spielt auch Steve Tasanes „Junge ohne Namen“.
Inhalt:
I heißt die Hauptfigur: ein Junge, der glaubt, dass er gerade zehn Jahre alt geworden ist, es aber mangels Pass nicht zuverlässig weiß. Seine besten Freunde sind die Geschwister L, ein Mädchen, und ihr jüngerer Bruder E. Außerdem gibt es noch V, die am ältesten von allen ist. Zusammen leben sie in einem trostlosen Flüchtlingslager, haben eine kleine Hütte und gemeinsam ist ihnen, dass sie ohne Eltern in dem Lager sind. Zu den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zählt man sie.
Im Lager ist vieles im Argen. Oft haben die Kinder Hunger, zu spielen gibt es wenig; aber I ist erfinderisch und kann aus Fundstücken Spielsachen machen. Außerdem sind die Wachmänner im Lager nicht gerade nett; sie nehmen nie Kontakt zu den Flüchtlingen auf, kümmern sich nur, ohne Gefühlsregungen zu zeigen, um ihren eigenen Kram. Und amtliche Papiere hat keines der Kinder; sie haben meist nur Erinnerungen an ihr früheres Familienleben – bei L und E gibt es immerhin noch ein Familienfotoalbum.
Wenigstens kümmern sich auch ein paar hilfsbereite Menschen um die Flüchtlinge im Lager. Charity ist da zum Beispiel: Sie nimmt in einem Doppeldeckerbus Kinder und Frauen auf, hilft ihnen, gibt ihnen ab und zu was zu essen. Oder da ist Ade, der E die Buchstaben, Lesen und Schreiben beibringt. Doch es ziehen auch dunkle Zeiten auf: Das Lager wird eines Tages völlig unerwartet von Bulldozern geräumt … Tränengas und Wasserwerfer werden eingesetzt.
Bewertung:
Was Steve Tasane in „Junge ohne Namen“ (Übersetzung: Henning Ahrens; englischer Originaltitel „Child I“) aufgreift, ist ein Bereich seiner eigenen Lebensgeschichte. Er war – wie in einem kurzen Nachwort steht – zwar kein Flüchtling, aber seine Eltern waren es, und er selbst ist in Armut aufgewachsen, nachdem sein Vater die Familie sitzen hat lassen. Aus diesen Gründen kennt Steve Tasane gut das Gefühl der Heimatlosigkeit sowie die Armut, mit der die Kinder im Buch leben müssen.
Ein sehr nüchtern erzähltes Buch ist „Junge ohne Namen“. I als Erzähler berichtet aus kindlicher Sicht, er schmückt wenig aus und erzählt nicht spannend. Das ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, vielleicht sogar irritierend, zumal das Buch mit den Buchstabennamen für die Kinder auch nicht zum Einfühlen einlädt. Das alles muss im Leser selbst geschehen. Die Idee dahinter ist, eine universelle Geschichte zu erzählen, die so überall und immer wieder geschehen kann – und deswegen erfährt man auch nirgends etwas über den Ort, in dem das Flüchtlingslager steht, oder über die Herkunft der Menschen dort. Ich habe beim Lesen in Bezug auf den Ort des Lagers jedenfalls bis zum Schluss gerätselt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Universell sind auch die Figuren – das unterstreichen die Buchstabennamen: I kann Abdul oder Mohammed, Ahmed oder Sala heißen. Wir wissen es nicht. Dazu passt schließlich auch, dass man so gut wie nichts über die Vorgeschichte von I erfährt. Lediglich, dass er aus einem Kriegsgebiet kommt, ist klar. Und das Gleiche gilt für alle anderen Personen in dem Kinderbuch.
Was einem sofort auffällt, wenn man das Buch in die Hand nimmt, ist seine Aufmachung. Mit dem kartonartigem Buchcover, mit der Geschichte, die nicht auf der 5. oder 7. Seite beginnt, sondern direkt vorne auf dem Buchdeckel, hat der Verlag versucht, ein Kritzelheft nachzubilden – eine clevere Idee. Dass die Buchgestaltung genau zu dem Inhalt des Buchs passt, wird einem auf den ersten Seiten klar, wo I berichtet, dass er alles, was passiert, in dem Büchlein dokumentieren will.
Dass die Sprache nüchtern ist, wurde schon erwähnt. Ab und zu blitzen dennoch ungewöhnliche Bilder und Vergleiche auf: „Einmal schlug mich ein Wachmann auf den Arm, als sich beim ersten Schneefall alle versammelten und um Decken baten, und der blaue Fleck wechselte eine ganze Woche täglich die Farbe. Das war wie ein Regenbogen in Zeitlupe.“ (S. 9) Sehr behutsam werden solche sprachlichen Besonderheiten eingesetzt; und sie setzen auf etwas auf, das man schon aus anderen Kinderbüchern kennt: der bewussten Naivität eines kindlichen Erzählers.
Zu dieser kindlich Naivität gehört auch, dass I sich selbst nie leid tut; nein, er lebt einfach, so gut es geht, in den Tag hinein, versucht mit allem zurechtzukommen und das Beste aus der Situation zu machen – das ist bewundernswert. Beim Lesen hinterlässt das, wenn man sich darauf einlässt, einen stärkeren Eindruck, als wenn hier problembewusst alles beschrieben würde. Die Hoffnungslosigkeit, die ungewissen Zukunftschancen sieht man als Leser nämlich sofort; und dass I das alles gar nicht thematisiert, ist, finde ich, schlimmer, als wenn er an allem verzweifeln und das ausdrücken würde.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Junge ohne Namen“ ist kein Buch, das ich verschlungen habe, nein, ich habe es häppchenweise gelesen. Für mich war es kein Buch zum Eintauchen, ich fand es auf ganze eigene Art anstrengend zu lesen, weil man eigentlich nicht gerne von Kindern liest, die in einer solchen Situation aufwachsen und leben. Es ist letztendlich beschämend, dass niemand sich um Kinder wie I, L, E und V kümmert und sie aus einem solchen Flüchtlingslager holt. Und sich das bewusst zu machen, ist nichts, was gute Gefühle hervorruft. Aber das will das Buch ja auch nicht; und genau deswegen ist Steve Tasanes Buch ein gutes und vor allem ein wichtiges Buch: weil es sensibilisiert dafür, dass bei Flüchtlingskinder wie I etwas gründlich schiefläuft.
Was ich mich allerdings beim Lesen immer wieder gefragt habe: Wem kann man dieses Buch in die Hand geben? Es dürften nicht viele Kinder / Jugendliche ab 12 Jahren sein, die dieses Buch gerne (und ohne gelangweilt zu sein) lesen. Von daher ist „Junge ohne Namen“ für mich eher ein Kinderbuch für Erwachsene – und wenn Erwachsene es mit ihren Kindern oder Lehrer/innen es mit ihren Schüler/inne/n lesen, vielleicht würde die Rechnung dann aufgehen. Das Buch – das ist meine Vermutung – braucht es, dass Kinder und Jugendliche mit jemandem darüber reden können.
(Ulf Cronenberg, 16.05.2019)
Lektüretipp für Lehrer!
Eine einfache Lektüre ist „Junge ohne Namen“ für die Schule nicht – wer die Besprechung oben gelesen hat, weiß warum. Ich glaube, dass die Verwendung des Romans im Unterricht nur wirklich gut funktionieren kann, wenn sie in ein Projekt über Flüchtlinge oder Flüchtlingskinder eingebettet ist – und das ginge durchaus fächerübergreifend: Ethik/Religion bieten sich hier neben Deutsch und Geografie unter anderem an. Und da passt dann auch noch ein zweites Jugendbuch mit dazu: Julya Rabinowichs „Dazwischen: Ich“.
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