(Thienemann-Verlag 2018, 430 Seiten)
Mit „Die Mississippi-Bande“ – einem Abenteuerroman im Stil der Tom-Sawyer-Bücher – dürfte sich der Italiener Davide Morosinotto bei einigen jugendlichen und erwachsenen Lesern bekannt und beliebt gemacht haben. Die Geschichte der Kinder am großen amerikanischen Strom hatte ganz viel Charme und war außerdem schön illustriert. „Verloren in Eis und Schnee“, das zweite Kinder-/Jugendbuch des Autors, kann ebenfalls als Abenteuerroman angesehen werden, aber er hat, weil er in Zweiten Weltkrieg spielt, einen deutlich ernsteren Hintergrund.
Inhalt:
Nadja und Viktor sind Zwillinge und leben mit ihren Eltern in Leningrad (dem heutigen Sankt Petersburg). Doch die Zeiten sind ernst: Beide Eltern arbeiten im Museum der Eremitage, doch weil die deutschen Truppen sich der Stadt nähern, soll das Museum mit seinen Werken ausgelagert werden. Schlimmer jedoch ist etwas anderes, das die Eltern der Zwillinge nicht schlafen lässt: Der Vater wurde zum Militärdienst einberufen, was die Eltern vor Viktor und Nadja erstmal geheimhalten wollten – doch weil sie lauschen, bekommen sie es von Anfang an mit.
Die Stimmung ist entsprechend schlecht, und dann wird auch noch angeordnet, dass alle Kinder mit Zügen aus Leningrad herausgeschafft und in Sicherheit gebracht werden sollen. Die Eltern der Zwillinge versuchen gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber Viktor und Nadja sehen ihnen die vielen Sorgen an. Als die beiden Kinder zum Bahnhof gebracht werden, bekommt Viktor den Auftrag, auf Nadja aufzupassen. Er soll seine Zwillingsschwester nicht allein lassen und verlieren.
Doch schon kurz darauf geht alles wild durcheinander: Nadja wird einem anderen Zug zugewiesen als Viktor, und dieser ist machtlos, etwas dagegen zu tun. Die Hoffnung besteht, dass die Züge das gleiche Ziel haben, aber so kommt es nicht. Während Viktor am Ufer der Wolga in einer Kolchose landet, bleibt Nadjas Zug stecken und beginnt irgendwann zu brennen – die Kinder können sich jedoch retten. In den Nachrichten wird allerdings etwas anderes berichtet: Der Zug Nummer 76 sei von den Deutschen bombardiert worden, niemand hätte überlebt. Das bekommt Viktor mit, doch er spürt, dass Nadja lebt, und beschließt, sie zu suchen. Ein sehr gefährliches Vorhaben, bei dem ihm andere Kinder und Jugendliche folgen, beginnt …
Bewertung:
Es ist schon erstaunlich: Da schreibt ein italienischer Autor erst ein Buch, das am Mississippi zu Beginn des letzten Jahrhunderts spielt und es kommt glaubwürdig daher; und nun traut der Autor sich eineinhalb Jahre später, einen Kinder-/Jugendroman zu schreiben, der von Kinderschicksalen während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion (dem heutigen Russland) handelt. „Verloren in Eis und Schnee“ (Übersetzung: Cornelia Panzacchi; italienischer Originaltitel: La sfolgorante luce di due stelle rosse“) ist zwar auch ein Abenteuerbuch wie „Die Mississippi-Bande“, aber es ist deutlich düsterer, es hat einige grausame Stellen und ist von daher frühestens für Leser ab 12 Jahren geeignet.
Das Buch besteht hauptsächlich aus Tagebuchaufzeichnungen von Nadja und Viktor, die abwechselnd als Schreiber fungieren: Viktor in roter Schrift, Nadja in Schwarz. Zusammengehalten wird alles durch eine Rahmenhandlung, bei der ein Oberst des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten Ende 1946 die Vorkommnisse um die beiden Zwillingen untersucht. Er liest die Tagebücher der beiden und will dann darüber entscheiden, ob sie angeklagt werden sollen.
Warum das Buch diese Rahmenhandlung hat, habe ich nicht so ganz verstanden – sie ist meiner Meinung nach eindeutig der größte Schwachpunkt des Romans, letztendlich ist sie sogar, würde ich sagen, überflüssig. Dass der Oberst auch noch naive und obrigkeitsgläubige Notizen an den Rand der Tagebuchaufzeichnungen kritzelt, macht es nicht besser. Diese sind meist einfach lächerlich – und wenn das Slapstick-Elemente und eine Auflockerung in das Buch bringen soll, so ist das nicht geglückt. Im Gegenteil: Ich habe mich darüber geärgert. Aber vielleicht mögen 12- oder 13-jährige Leser damit entspannter umgehen …
Mal abgesehen davon gefällt mir die Geschichte jedoch gut – auch wenn die beiden Zwillinge leicht heroisiert werden und sich extrem tapfer und mutig durch die Wirren des Krieges schlagen. Was Nadja und Viktor alles in allem mitmachen, ist recht heftig. Dass Davide Morosinotto, was die schlimmen Ereignisse und Geschehnisse angeht, nicht bei den Freunden von Nadja und Viktor, ja selbst bei den Zwillingen nicht haltmacht, ist folgerichtig und lässt die Geschichte glaubwürdiger erscheinen. Nadja und Viktor erleiden so einiges in dem Buch, und beide sind immer wieder am Verzweifeln, raffen sich aber wieder auf, um zueinander zu finden und zu überleben.
Klar, „Verloren in Eis und Schnee“ ist kein richtiger historischer Roman, auch wenn Davide Morosinotto im Nachwort schreibt, dass er sich möglichst genau an die geschichtlichen Ereignisse zu halten versucht hat. Aber was deutlich vermittelt wird, ist, dass der Zweite Weltkrieg – gerade der Russlandfeldzug der Deutschen – etwas Schreckliches war. Über diese Zeit gibt es andere Jugendbücher (z. B. Ruta Sepetys‘ „Und in mir der unbesiegbare Sommer“), doch die sind meist nicht für Leser zwischen 12 und 14 Jahren geeignet. Davide Morosinotto schafft es recht gut, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs für jüngere Jugendliche aushaltbar zu machen. Er erreicht das zum einen durch den altersgemäßen und authentischen Ton, den er den beiden Tagebuchschreibern in den Mund legt – die Tagebuchtexte lesen sich erfrischend -, zum anderen dadurch, dass die Gräuel in der Geschichte durch Abenteuerelement entschärft werden.
Was man von „Die Mississippi-Bande“ kennt, zeichnet auch „Verloren in Eis und Schnee“ wieder aus: Das Buch ist ansprechend gestaltet. Die Tagebuchaufzeichnung werden durch kleine Skizzen, durch Fotos, durch Landkarten, Zeitungsartikel und anderes aufgelockert, die Notizen und Briefe des Oberst sind mit einem Briefpapier hinterlegt … Das Buch von Davide Morosinotto kommt also in der Tat wie eine Tagebuchsammlung daher, und das dürfte viele jugendliche Lesern ansprechen.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Auch das zweite Kinder-/Jugendbuch von Davide Morosinotto ist etwas Besonderes, und wer hätte erwartet, dass der italienische Autor die Abenteuergefilde des Mississippi Anfang des 20. Jahrhunderts verlässt und sich Russland im Zweiten Weltkrieg zuwendet. „Verloren in Eis und Schnee“ ist ein düstereres und ernsteres Buch als der Vorgänger „Die Mississippi-Bande“. Gibt man den neuen Roman 12-Jährigen in die Hand, sollten diese nicht zu sensibel sein. Zwar werden schlimme Ereignisse dosiert und ohne heftige Details beschrieben, aber zimperlich ist Davide Morosinotto insgesamt trotzdem nicht und mutet seinen Kinderhelden vieles zu.
Die Idee mit dem Tagebuchroman, der zwei Erzähler kennt, ist in jedem Fall gelungen, die Rahmenhandlung mit dem Volkskommissariat-Oberst dagegen überflüssig. Vielleicht wollte Davide Morosinotto der Geschichte durch die Einrahmung etwas von dem Schrecken nehmen, aber die Kommentare des Oberst sind nicht viel mehr als nervig. Der Rest vom Buch erzählt jedoch sehr gekonnt von einem schrecklichen Kapitel der Geschichte, bei dem viele Kinder leiden mussten und nicht wenige ums Leben kamen. „Verloren in Eis und Schnee“ ist keine leichte Kost, aber es ist ein Buch, das man Kindern und Jugendlichen durchaus zu lesen geben sollte, denn sie lernen in einem Abenteuergewand, dass es schlimme Zeiten gab.
(Ulf Cronenberg, 10.01.2019)
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Hallo Ulf,
mit großem Erfolg und sehr viel positiver Resonanz hatte ich schon 2017 im Buchladen die „Mississippi-Bande“ empfohlen und dieses neue Buch ist wirklich genauso lesenswert und beschert dem Genre historischer Roman endlich mal wieder eine Menge neuer Leser.
Im Gegensatz zu dir haben mich die Randnotizen und Anmerkungen des Oberst nicht genervt. Ich fand sie teilweise recht witzig, außerdem verdeutlichen sie (und das ist in meinen Augen für den jugendlichen Leser doch ganz sinnvoll) immer wieder die Diskrepanz zwischen dem natürlichen Rechtsempfinden und der Rechtsprechung im damaligen Russland.
Bis bald, Britta
Na, gut, dass du das schreibst, Britta – ich hätte ja nicht erwartet, dass einen erwachsenen Leser die Kommentare des Oberst nicht nerven …
Viele Grüße, Ulf