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Buchbesprechung: Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“

Cover: Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“Lesealter 16+(mairisch verlag 2018, 181 Seiten)

Nach der bravourösen „Maulina“-Trilogie, die im Herbst 2014 abgeschlossen wurde, war es längere Zeit still um Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring. Mit „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ kam jetzt in einem neuen Verlag ein neues Buch des Text/Illustration-Duos heraus – und der erste Blick auf das Cover und in das Buch zeigt schon, dass der Text von Finn-Ole Heinrich und die Illustrationen von Rán Flygenring gekonnt ineinandergreifen und ein kleines Schmuckstück geschaffen haben – aber dazu weiter unten mehr.

So ganz leicht ist die Geschichte nicht zu nachzuerzählen … Das geht schon damit los, dass der Erzähler gar keinen Namen hat. Aber was man gleich zu Beginn erfährt, ist, dass er Vater wird. Amanda – die Liebenswürdige und -werte – heißt seine Partnerin, das noch nicht geborene Baby wird Krümelchen genannt – doch die bevorstehende Geburt versetzt Krümelchens Vater nicht in Verzücken, sondern in Angst und Panik.

Das Paar muss übergangsweise zu Amandas Eltern ziehen. Und Hartmut (nomen est omen), Amandas Vater, hält vom Freund seiner Tochter, der sich als Schriftsteller durchs Leben schlägt, rein gar nichts, ja, er ist wenig begeistert, dass seine Tochter mit dem „Herrn Künschtler“ ein Kind bekommt. Doch schlimmer ist, dass sich der Erzähler gar nicht auf das Vatersein vorbereitet fühlt.

In seiner Not schnappt er sich sein Auto, fährt, ohne jemandem Bescheid zu geben, zu einem magischen Wald, in dem der berüchtigte Reuber sein Unwesen treibt. Dort will er vom Reuber lernen, was er selbst braucht, um ein richtiger Vater sein zu können. Und tatsächlich, nach längerem Suchen stößt er tief im Wald auf den deftig-herben Reuber und geht bei ihm auf ziemlich ungewohnte Art und Weise in die Lehre. Es sind die seltsamsten Dinge, die der Erzähler dort lernt – und zwar auf die harte Tour: neben dem Jagen von Tieren, dem Überfallen von Wanderern auch Sachen wie, von hohen Felsen in den See zu springen, das Luftfuttern und das „nicht in der Welt rumgefühlen“ …

Rán Flygenring "Mittelpunkt des Waldes"

Einsam und verlassen im Wald: der werdende Vater | Illustration aus: Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“

Bewertung:

Als die letzte Seite gelesen war, da habe ich mir – wie schon vorher immer wieder – die Frage gestellt, was ich da eigentlich für ein Buch gelesen habe. Ich hatte vorher beim Verlag nachgefragt, für welche Zielgruppe das Buch sei, und es hieß, dass es für Kinder zwischen 8 und 12, aber auch für Erwachsene geeignet sei. Aber wenn ich mir eines nicht vorstellen kann, dann ist es, dass man dieses Buch Kindern zum Lesen geben oder es ihnen vorlesen kann. Das liegt vor allem daran, dass da viel zu viele Reflexionen einer erwachsenen Hauptfigur enthalten sind – es bleiben erwachsentypische Gedanken, auch wenn sie im vermeintlich kindgerechten Ton vorgetragen werden.

Der Einstieg in den Roman war nicht einfach – ich hatte mit „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ ziemlich lange meine Probleme. Der Erzähler berichtet von seinen Erlebnissen quasi imaginär dem nichtgeborenen Krümelchen, und was da auf den ersten 50 Seiten zusammmenkommt, fand ich nervig. Die übertrieben vorgebrachte, leicht anbiedernde Krümelchen-Ansprache, diese nicht durchschaubare Figur eines jungen Manns, der Vater wird und sich selbst dabei leid tut, die seltsame Handlung der Flucht in einen Reuberwald – das hat mich alles nicht mitgerissen, sondern es hat aufgesetzt und überdreht gewirkt. So habe ich für die ersten 50 Seiten auch einiges länger als für den Rest des Reuberromans gebraucht.

Rán Flygenring "Mittelpunkt des Waldes"

So sieht er aus, der Reuber … | Illustration aus: Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“

Irgendwann hat mich das Buch dann doch gepackt, aber das war erst kurz vor der Mitte. Die Geschichte mit dem Reuber wird einfach immer besser, denn der Reuber, das ist ein unerschrockener, vordergründig trampelig-furchtloser Typ, der jedoch ganz andere Seiten hat. Sprechen tut er übrigens in einem nuschelnden Reuberkauderwelsch: „Du wollsoch lern wieasis im Wald.“ oder „Was eine gefühl is eimpfachnuregal. Deshalb Reuber gefühlnich.“ Das ist mitunter witzig zu lesen. Irgendwann gegen Ende fängt auch der werdende Vater an, so zu sprechen … Bis dahin hat er jedoch vieles andere gelernt: Der Erzähler wird furchtloser, mutiger, selbstbewusster – eben selbst ein kleiner Reuber, der weiß, was er will. Ja, das Happy End (ein geläuterter Vater) ist absehbar – aber nicht platt inszeniert.

Jenseits der Geschichte, die für mich viel zu lange braucht, bis sie in Fahrt kommt, kann ich einmal mehr wieder nur staunen, mit welcher Wortgewalt Finn-Ole Heinrich seine Geschichte erzählt. Er ist einer der sprachlich Kreativen in der deutschen Sprachwelt – das Buch strotzt auch jenseits der Reubersprache von Wortneuschöpfungen. Der Reuber z. B. „rölzte […] dicht hinter meinem Ohr.“ (S. 6) Rölzen? Ein Wort, das man nicht im Duden findet, aber trotzdem versteht. Weiter geht es mit „»Reuber, Reuber«, rummte der Reuber.“ Später „runft“ er, „gnarft“ er und so weiter … Sprachlich macht das Buch wirklich viel her; man bestaunt den Text, sofern man diese verspielt-kreative Sprache mag, die am Rande des „Zuviel des Guten“ entlang hangelt, die Grenze meiner Meinung nach aber nicht überschreitet.

Was das Buch über die sprachlichen Finessen hinaus ausmacht, sind die Illustrationen der Isländerin Rán Flygenring. Zwei Farben finden Verwendung: Schwarz und Tannengrün, und daraus gestaltet die Illustratorin einen schmucken Reigen über das zivilisationslose Leben im Wald mit all seinen Facetten. Der Reuber ist archaisch gezeichnet, auf manchen Seiten werden Sachen in kleinen bebilderten Tutorials erklärt, zwischendrin findet man Seiten mit den wichtigsten Reuberregeln … Den Stil (feiner, oft kritzeliger Strich, etwas krakelige Schrift, Illustration in zwei Farben) kennt man freilich schon aus den Maulina-Büchern, aber er passt hervorragend zum ruppigen Reuber und dessen Welt.

Rán Flygenring "Mittelpunkt des Waldes"

Eine von den erklärenden Seiten – hier: Fußspuren im Wald | Illustration aus: Finn-Ole Heinrich & Rán Flygenring „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“

Fazit:

4 von 5 Punkten. Ein Kinderbuch? Ich würde klar sagen: nein. Ein Buch für Jugendliche: bedingt, aber dann sollte man schon 15 bis 16 Jahre alt sein. Für mich ist Finn-Ole Heinrichs und Rán Flygenrings „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ eher ein Buch für (junge) Erwachsene, denn es geht darum, dass sich ein werdender Vater den bevorstehenden Änderungen durch die Geburt des eigenen Kindes nicht gewachsen fühlt und dann eine allegorische Reise zum Reuber in den Wald unternimmt, um sich auf das Leben mit Sohn vorzubereiten. Manches, was der künftige Vater und der Reuber erleben, mag kindgerecht sein, aber der Grundstock der Geschichte ist es eben nicht.

Dass ich fast die Hälfte des Buchs gelesen haben musste, bis es mich in den Bann gezogen hat, mag vielleicht daran liegen, dass die Geschichte so Ungewöhnliches erzählt. Ich könnte mir vorstellen, dass ein zweites Lesen dieses lang andauernde Befremden nicht mehr hätte, dass man auch den Beginn dann mehr genießen kann. Dramaturgisch finde ich trotzdem, dass der Reuber (außer im Einleitungskapitel, wo er kurz in Erscheinung tritt) etwas früher auftreten könnte – denn er gibt dem Buch das, was es spannend macht.

Mal jenseits dieser Bedenken: Warum das Buch trotzdem Jugendlichen empfohlen sei, lässt sich klar benennen. Es ist sprachlich virtuos, sprachlich eine Wucht … Und hat man die ersten hohen Hürden genommen, so bekommt man außerdem eine sympathisch unkonventionelle Geschichte aufgetischt. Wer als Jugendlicher wissen will, wie man kreativ mit Sprache umgehen kann, der ist hier richtig – und jede/r, der/die sich für die grafische Gestaltung von Büchern interessiert, ebenso. Auch wenn die Geschichte etwas lange ein wenig vor sich hin schleppert – man liest etwas Einzigartiges und hat zugleich ein Schmuckstück in den Händen.

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(Ulf Cronenberg, 12.11.2018)

Die obigen Abbildungen (© Rán Flygenring) aus dem Buch wurden mit freundlicher Genehmigung des mairisch verlags hier aufgenommen – herzlichen Dank dafür!

P. S.: Die Idee für „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ ist wohl schon etwas älter. Jedenfalls habe ich im Februar 2015 ein Interview mit Finn-Ole Heinrich geführt (hier nachzulesen), wo ganz am Ende schon erwähnt, dass das nächste Buch im Wald spielen wird …


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