(Arctis-Verlag 2018, 345 Seiten)
Die #MeToo-Debatte (Wikipedia-Artikel) – ausgehend von amerikanischen Schauspielerinnen, die dem Produzenten Harvey Weinstein sexuelle Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung vorgeworfen haben – hat im letzten Jahr für ziemlich viel Wirbel gesorgt. (Dass das Hashtag #MeToo schon viel älter ist, habe ich übrigens erst in der Wikipedia erfahren.) Jedenfalls ist dadurch ein wichtiges Thema ziemlich massiv in die Öffentlichkeit gelangt und hat am öffentlichen Bewusstsein einiges verändert. Mit „Moxie“ von der amerikanischen Autorin Jennifer Mathieu, die sich als Feministin bezeichnet, ist das Thema in einem aktuellen Jugendbuch aufgegriffen worden, auch wenn der Begriff #MeToo dort gar nicht auftaucht.
Inhalt:
Vivian geht in die vorletzte Jahrgangsstufe der High School und ist eigentlich ein eher angepasstes und braves Mädchen. Doch immer wieder erlebt sie, wie einige Jungen sich abfällig gegenüber Mädchen verhalten und sie immer wieder auch bedrängen. Das geht hauptsächlich von angesehenen Footballspielern aus, darunter auch Mitchell, dem Sohn des Direktors, der in einigen von Vivians Kursen sitzt.
Zuhause stöbert Vivian mal wieder in einer alten Kiste ihrer Mutter, die auf dem Schrank steht. Dort hat ihre als Jugendliche ganz und gar nicht angepasste Mutter – sie war ein Punkrock-Riot-Grrrl – unter anderem alte Flyer gesammelt, in denen zum Widerstand gegen patriarchalische Strukturen aufgerufen wird. Das bringt Vivian auf die Idee, auch etwas gegen die unmöglichen Sprüche und Übergriffe der Jungen an ihrer Schule zu tun. Vivian erstellt einen Flyer, dem sie den Titel „Moxie“ gibt – darin ruft sie die Mädchen auf, Sternchen und Herzen als Zeichen des Sich-Wehrens auf ihre Arme zu malen. Die Flyer verteilt sie heimlich auf den Mädchentoiletten, und tatsächlich findet Vivian bald Mädchen mit bemalten Unterarmen.
Doch ändern tut sich dadurch nichts – eher im Gegenteil. Die Schulleitung schikaniert die Mädchen zusätzlich, indem sie sie willkürlich aus dem Unterricht holt. Angeblich seien die Mädchen nicht ordentlich gekleidet und provozierten so die Jungen. Deshalb müssen diese ein sackartiges Schul-T-Shirt anziehen. In ihrem zweiten „Moxie“-Heft fordert Vivian (wieder anonym) deswegen die Mädchen auf, an einem Freitag mit Bademantel in die Schule zu kommen. Die Aktion gelingt, führt aber zu weiteren Repressalien seitens der Schulleitung. Vivians Leben gerät ziemlich durcheinander …
Bewertung:
Wer „Moxie“ (Übersetzung: Alice Jakubeit; englischer Originaltitel: „Moxie“) in diesen Tagen liest, der kommt nicht darum herum, an das aktuelle politische Geschehen in den USA zu denken: Die Psychologie-Professorin Christine Blasey Ford wirft Brett Kavanaugh, dem Kandidaten für den Obersten Gerichtshof der USA, vor, dass er sie als Jugendlicher auf einer Party zu vergewaltigen versucht habe. Genau der gleiche Vorwurf eines Mädchens taucht weiter hinten auch in „Moxie“ auf. Beschuldigt wird der oben bereits erwähnte Sohn des Direktors.
Was Jennifer Mathieu anfangs in ihrem Buch schildert, ist das Machogehabe der Footballstars an der Schule. „Mach mir ein Sandwich“ ruft Mitchell, der Direktorensohn, im Unterricht einem Mädchen zu und demonstriert damit, dass für ihn Frauen in die Küche gehören. Im Laufe des Buchs kommt da aber einiges Weitere dazu: dass Mädchen begrapscht werden, dass sie von der Schulleitung nicht angehört, sondern schikaniert werden, dass ein Mädchen von eben jenem Mitchell fast vergewaltigt wird.
Jennifer Mathieu macht das ganz geschickt: Im Zentrum steht kein selbstbewusstes Mädchen, das mit Power für seine Rechte kämpft, sondern die eher angepasste Ich-Erzählerin Vivian. Sie spürt jedoch sehr genau, dass und wie die Mädchen an der Schule kleingehalten und drangsaliert werden. Dass Vivian sich traut, über ein anonymes Zine (Kurzform von Magazine) zum Widerstand aufzurufen, dabei aber viel zweifelt und an vielem verzweifelt, macht die Hauptfigur sympathisch. Psychologisch finde ich alles jedenfalls durchaus plausibel – auch dass Vivian die Tochter einer jugendlichen, inzwischen gezähmten Rebellin ist, ist durchaus nachvollziehbar.
Eine zentrale Rolle spielt in dem Buch auch ein Junge: Seth, erst kürzlich nach Texas gezogen, gefällt Vivian vom ersten Moment an und steht für Jungen, die anders als die meisten anderen sind. Er beteiligt sich jedenfalls nicht an mädchenfeindlichen Sprüchen und Aktionen. Gottseidank wird Seth im Roman aber nicht zu eindimensional als der Gute darstellt. Vivian fühlt sich später im Buch einmal gar nicht von ihm verstanden und gerät mit ihm in Zwist, weil er als Erstreaktion die vorgeworfene Vergewaltigung in Zweifel zieht.
„Moxie“ ist ein sehr amerikanisches Buch – das ist etwas, worüber ich immer wieder mal gestolpert bin. Dieses High-School-Getue kann einem manchmal auf die Nerven gehen, und Texas ist natürlich auch bekannt dafür, nicht gerade zu den liberalen Staaten der USA zu gehören. Das machte es leichter, diese Geschichte zu schreiben, weil hier einiges im Argen liegt, aber es behindert vielleicht ein wenig den Transfer auf die Situation in Deutschland. Hier ist der Sexismus, würde ich mal behaupten, subtiler, aber trotzdem vorhanden. Die Benachteiligung von Frauen ist jedenfalls auch in Deutschland ein Fakt, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan hat. Man schaue z. B. an, wie wenige Frauen in den Vorständen der DAX-Unternehmen sitzen (derzeit 13,5 %) …
Aber zurück zu „Moxie“. Ich habe mich lange gefragt, wie das Buch wohl ausgehen wird. Jennifer Mathieu hat das aber gekonnt gemacht. Auch wenn es zwischenzeitlich nicht so aussieht, am Ende haben die Moxie-Aktionen etwas bewirkt … Mit verantwortlich dafür ist auch die versuchte Vergewaltigung, bei der anfangs niemand weiß, welchem Mädchen das passiert ist. Dass die Auflösung unerwartet kommt, gehört zu den Stärken des Romans, der alles in allem passend zur Hauptfigur dramaturgisch eher brav, aber gerade deswegen glaubhaft aufgebaut ist.
In das Buch eingestreut sind übrigens auch die Moxie-Zines und -Flugblätter, die Vivian (und später andere) erstellen. Hm, würde diese heute wirklich jemand handschriftlich anfertigen? Na ja, das ist eine Kleinigkeit … – aber das hätte man anders lösen können.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Moxie“ ist ein sympathisches Buch, das nicht mit übertrieben feministischem Sendungsbewusstsein daherkommt, sondern klar und deutlich, aber differenziert beschreibt, wie an einer texanischen High School Sexismus aussieht – und zwar in seinen vielfältigen Ausprägungsformen. Die Botschaft ist klar: Mädchen und Frauen sollten sich das nicht gefallen lassen, sie sollten sich zusammenschließen und wehren. Was das Buch außerdem leistet: Es sensibilisiert für Formen des Sexismus. Wer sich bisher nicht mit dem Thema beschäftigt hat, wird manches hinterher mit anderen Augen sehen. Ein bisschen schade ist allerdings, dass der sonstige Alltagssexismus gar nicht thematisiert wird – es geht im Roman wirklich nur um den Mikrokosmos Schule.
Dass „Moxie“ sich vor allem an Mädchen richtet, macht nicht nur das Cover deutlich, sondern es ist auch die weibliche Hauptfigur, die wohl kaum Jungen das Buch lesen lassen dürfte. Das ist schade, denn gerade Jungen sollten sich auch mit solchen Themen auseinandersetzen – aber man hätte das Buch zweiperspektivisch aufziehen müssen (mit Seth als zweitem Erzähler), um das zu ändern. Vorwerfen kann man das dem Buch nicht – ich sehe das eher als eine verpasste Chance. Wie dem auch sei: „Moxie-Girls schlagen zurück!“ Hoffen wir, dass die Zahl der Moxie-Boys auch größer wird …
(Ulf Cronenberg, 30.09.2018)
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