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Buchbesprechung: Steven Herrick „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“

Cover: Steven Herrick „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“Lesealter 13+(Thienemann-Verlag 2018, 240 Seiten)

Schon der erste Roman von Steven Herrick mit dem Titel „Wir beide wussten, es war was passiert“ war in Versen abgefasst. Auch das Nachfolgebuch kommt in Versen daher. Das ist wahrscheinlich nicht für alle Leser was, aber wer bewusste Sprache mag (gereimt sind die Verse übrigens nicht) und beim Lesen gerne immer wieder mal innehält, für den sind Versromane genau das Richtige. Bei Steven Herricks Debüt hatte ich ein bisschen was an der Story auszusetzen – ich war gespannt, ob es mir diesmal anders geht.

Inhalt:

Harry und Keith leben mit ihrem Vater in einem Holzhaus, dessen Fassade einfach mit dunklem Altöl bepinselt ist. Ihre Mutter kam, als Harry sieben Jahre alt war, ums Leben, viele Bewohner in der kleinen Stadt an einer Flussbiegung meinten, dass die Kinder ohne Mutter verlottern würden, dass der Vater sich nicht alleine um sie kümmern könne – aber den beiden geht es gut.

Allerdings passiert noch etwas Tragisches in Harrys Leben: Bei einer großen Überschwemmung wurde im Jahr zuvor Linda, zu der er sich hingezogen fühlte, von den Fluten mitgerissen und ertrank. Seitdem trauert Harry Linda nach und denkt gleichzeitig mit guten Gefühlen an sie.

Harry und der ein Jahr jüngere Keith kommen langsam ins Alter, wo man sich für Mädchen interessiert. So beobachten sie einen älteren Nachbarsjungen, der immer wieder Mädchen abschleppt. Das ist interessant, doch Harry ist schockiert, als dort einmal auch die junge und hübsche Sekretärin der Schule, die er verehrt, auftaucht.

Ansonsten verbringen die Brüder ihre Tage in der Schule, treffen ihre Freunde und spielen Streiche. Harry ist ein Junge, der alles sehr aufmerksam beobachtet, der aber auch viel dabei fühlt. Und auch wenn das Leben ihm schon einige schlimme Dinge präsentiert hat, insgesamt ist er in seinem Leben glücklich.

Bewertung:

Um mit Steven Herricks Versroman „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“ (Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn; englischer Originaltitel: „By the River“) zurechtzukommen, muss man es mögen, zwischen den Zeilen zu lesen. Denn manche Dinge, die passieren, werden nicht direkt benannt, man muss sie sich erschließen – aber dadurch wird man auch intensiver in ein Sich-selbst-vorstellen hineingezwungen, als wenn man einen epischen Text mit ausführlichen Schilderungen und Beschreibungen liest. Das ist durchaus reizvoll.

Ingesamt sieben Kapitel hat das Buch, die grob, aber nicht durchgängig chronologisch angeordnet sind und von denen jedes aus mehreren Gedichten besteht. In der Regel sind die Gedichte ein bis zwei Seiten lang. Als Einstieg lernt man das Städtchen, Harry mit Familie und die Einwohner kennen, später erfährt man ein bisschen mehr über den Tod von Linda bei der Überschwemmung. Mehrere tragische Dinge passieren außerdem, bei den Mitbewohnern der Stadt, aber auch in Bezug auf Harrys Vater, und am Ende lernt Harry ein Mädchen kennen, das ihn dazu bringt, positiver auf das Leben zu schauen.

Wie das mit den Versen funktioniert, kann man am besten an einem Beispiel (S. 71) erkennen. Manche Dinge werden ganz profan geschildert und bekommen wegen der wenigen Worte, die dafür verwendet werden, aber auch wegen ungewöhnlichen Satzstellungen oder elliptischem Satzbau eine besondere Bedeutung. Manches wird in Bildern und Metaphern aber auch nur indirekt gesagt:

Auf Bäume klettern

Eichen,
Tannen,
sogar großblättrige Feigen.
Du greifst zu,
schwingst mit den Füßen
und ziehst dich hoch.
Danach ist es
wie eine verkratzte Leiter emporsteigen,
bis du von Blättern
verborgen bist.
Und wenn du dich still verhältst,
laufen
stundenlang unten
die Leute vorbei,
reden
vom Einkaufen,
von Ehemännern,
von Geld
vom Tod
und davon,
wer letzten Samstag
betrunken war
und im Vorgarten
auf dem Rasen
seinen Rausch
ausgeschlafen hat.

Um was es in Steven Herricks „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“ geht, wird hier angedeutet: Harry ist vor allem Beobachter – und zwar zum einen von dem, was in der Stadt passiert, zum anderen aber auch von dem, was in ihm vorgeht. Sehr intensiv lernt man Harrys Gefühle kennen, erfährt von seinem aufkeimenden Interesse an Sexualität. Außerdem versucht er Lindas Tod zu verarbeiten, indem er sich an sie erinnert, auch seine tote Mutter taucht immer wieder in den Erinnerungen auf. Für einen Vierzehnjährigen kommt er mir manchmal fast etwas kindlich vor, aber zu der Zeit, in der sich die Geschichte zuträgt, waren 14-Jährige anders als heute. Von daher passt das.

Das merkt man nämlich recht bald: dass die Geschichte nicht heute spielt. Anfangs tappt man im Dunklen, welche Zeit Harry beschreibt, bis er es einmal selbst anspricht: „Im Jahr 1962 / war ich vierzehn / und die Flut schwemmte / Kühlschränke, Fahrräder, / alte Reifen / und Linda Mahony / flussabwärts.“ (S. 46) Das Buch selbst hat übrigens, auch wenn es erst dieses Jahr ins Deutsche übersetzt wurde, schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Das Original ist in Australien 2004 erschienen.

Was festzuhalten bleibt: Mir gefällt die Sprache im Buch – sie ist anfangs etwas sperrig, bis man sich eingerichtet hat, aber später kam ich, wenn ich dann mal 30 oder 50 Seiten am Stück gelesen habe, immer wieder in einen Leseflow und wurde in die Geschichte hineingezogen. Gekonnt baut Steven Herrick auch wiederkehrende Methaphern-Motive ein: Farben spielen ebenso wie Wasser eine wichtige Rolle. Und: Man fühlt sich Harry nah, lernt eine Jungen kennen, der trotz der Widrigkeiten in seinem Leben, alles wertzuschätzen vermag. Zur Freude am Buch gehört auch dessen behutsam-bewusste Gestaltung: Jedes Kapiteldeckblatt wird durch ein Deckblatt mit den Wasserwellen vom Cover eingeleitet.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“ ist ein für Jugendliche durchaus anspruchsvolles Buch, denn die Erzählweise in Versen ist etwas eigensinnig, wenn man sich auf sie einlässt, wird man jedoch schnell davon verzaubert. Dass das auch Jugendlichen ab 13 oder 14 Jahren so gehen könnte, da bin ich mir nicht so sicher. Allerdings hat Steven Herricks erster deutscher Versroman „Wir beide wussten, es war was passiert“ es im letzten Jahr auf die Jugendjury-Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises geschafft. Von daher habe ich mit meinen Zweifeln vielleicht unrecht …

Ich mag die Versform jedenfalls. Es hat etwas Meditatives, wenn Harry sein Kleinstadt-Leben in den 1960er Jahren beschreibt: das, was passiert und was es in ihm auslöst. Steven Herrick dürfte einige eigene Erfahrungen von seiner Kindheit (er ist 1958 geboren) in das Buch eingearbeitet haben, und das spürt man.

Ich bin gespannt, ob es von Steven Herrick noch mehr zu entdecken geben wird. Jedenfalls ist die Liste seiner Bücher in der englischsprachigen Wikipedia (hier) deutlich länger als die zwei Bände, die es bisher auf Deutsch gibt (welche seiner Bücher Jugendroman sind, steht leider nicht dabei).

blau.giflila.gifrot.gifgelb.gifgruen.gif

(Ulf Cronenberg, 30.08.2018)

(Abdruck der Textpassagen aus dem Buch mit freundlicher Genehmigung des Thienemann-Verlags – danke!)

Kommentare (3)

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