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Buchbesprechung: Jutta Wilke „Stechmückensommer“

Cover: Jutta Wilke „Stechmückensommer“Lesealter 12+(Knesebeck-Verlag 2018, 207 Seiten)

Ein hübsches Cover ziert das Buch, und der VW-Bus lässt einen auch schon ahnen, dass da Jugendliche unterwegs sein könnten. Ja, und so ist es auch. Jutta Wilkes „Stechmückensommer“ ist ein Roadmovie-Buch, das – wie sich das für das Genre gehört – von einer besonderen Reise erzählt. Dass ich Roadmovies in Bücherform mag, habe ich schon öfter erwähnt, von daher war der Jugendroman für mich Pflicht. Mal sehen, ob die Geschichte über ein ungewöhnliches Trio gelungen ist …

Inhalt:

Madeleine wurde von ihren Eltern auf ein Sommercamp nach Südschweden geschickt – nicht so ganz freiwillig. Aber die Eltern meinten, sie bräuchten dringend mal eine Auszeit, und verbanden eine Dienstreise nach Japan mit einem längeren Urlaub dort: ohne Tochter. Vor einem knappen Jahr war der Bruder von Madeleine vor der Geburt gestorben, und das hatte die Familie sehr belastet. Aber so verständlich das sein mag, Madeleine fühlt sich trotzdem abgeschoben und wäre liebend gerne woanders als im Camp.

Die ersten Tage sind erwartungsgemäß schlimm. Madeleine, die etwas dicker ist, wird von den anderen Mädchen und Jungen geschnitten und nicht gerade fair behandelt. Als der Ausflug in ein altes Bergwerk ansteht und sie sich unter Tage allein mit Taschenlampen in Gruppen umschauen sollen, flüchtet Madeleine alleine aus dem Bergwerk. Müde legt sie sich auf die Rückbank des VW-Bus, der die Gruppe zum Bergwerk gebracht hat, und wacht auf, als der VW-Bus losfährt. Am Steuer sitzt jedoch nicht ein Betreuer, sondern ein Junge mit rot-grün gefärbtem Irokesenhaarschnitt, den Madeleine nicht kennt. Sie zetert und schreit, dass er sie zurückbringen soll, aber der Junge fährt einfach weiter.

Irgendwann gibt Madeleine ihren Widerstand auf, und sie erfährt nach und nach, was der Junge, der noch nicht mal 16 Jahre ist und sich Juli nennt, vorhat: Er will mit dem geklauten Bus von Südschweden ans Nordkap fahren. Madeleine hält ihn für verrückt. Als sie tanken müssen, bemerkt Juli, dass er seinen Geldbeutel verloren hat. Die einzig rettende Idee, zu Geld zu kommen, ist, einen Campingplatz zu suchen und dort etwas aus einem Zelt zu klauen; und das gelingt ihnen auch. Doch als sie danach zum VW-Bus kommen, sitzt noch jemand im Bus: Vincent, 16 Jahre, ein Junge mit Downsyndrom. Und sie werden ihn trotz mehrerer Versuche, ihn rauszuschmeißen, nicht los. Weiter geht es also zu dritt …

Bewertung:

Ein wirklich ungewöhnliches Trio kommt da zusammen, um in einem roten VW-Bus ans Nordkap zu reisen: Juli, der mit fast 16 Jahren ja noch nicht mal Auto fahren darf, klaut den Bus; er hat das Autofahren von seinem Großvater, der vor kurzem gestorben ist, gelernt. Warum er unbedingt zum Nordkap will, erfährt man als Leser – wie Madeleine auch – erst in der Mitte des Buchs … Madeleine selbst hat es nicht leicht, sie wird von vielen wegen ihrer Figur nur Made genannt. Irgendwann dämmert ihr, dass Juli sie anders als ihre Mitschüler/innen behandelt und eben nicht aufzieht oder ärgert. Für sie ist das ist der Wendepunkt, wo sie beschließt, mit Juli weiterzureisen. Was hat sie schließlich zu verlieren?

Und dann ist da noch Vincent, der sich auf ein Abenteuer freut und nicht abschütteln lässt, obwohl Juli ihm gegenüber ziemlich grob wird. Für jemanden mit Down-Syndrom ist er ganz schön fit, auch wenn er ein bisschen nuschelt. Dass er dann weiter mitfahren darf, liegt an zwei Dingen: Würde er zurückbleiben, könnte er die anderen beiden verraten. Und außerdem kennt er den Weg zur dringend benötigten nächsten Tankstelle …

Irgendwie klingt die Grundstory schon fast etwas übertrieben konstruiert: Ein Downie, eine Dicke und ein Flüchtiger mit Irokesenschnitt machen mit einem geklauten Bus Schweden unsicher – um es etwas überpointiert zusammenzufassen. Aber in dem Buch stört es ganz und gar nicht. Im Gegenteil, man kennt das ja von anderen Roadmovie-Büchern oder -Filmen: dass sie gerade von so schrägen Figuren leben, und natürlich davon, dass es unvorhergesehene Schwierigkeiten und Erlebnisse gibt; und die gibt es in „Stechmückensommer“ dann auch reichlich. Vorhersehbar ist Jutta Wilkes Roman jedenfalls nicht.

Was die Geschichte nebenbei gekonnt aufgreift, ist das Thema Anderssein, und so wie das passiert, ist „Stechmückensommer“ ein Plädoyer dafür, dass man möglichst vorurteilsfrei auf andere zuzugehen sollte. Für Madeleine ist es etwas Besonderes, dass Juli eben nicht auf sie als dickes Mädchen herabschaut. Und weil das schon fast zu schön ist, um wahr zu sein – das spürte Jutta Wilke beim Schreiben vielleicht auch –, gibt es weiterhin hinten im Buch eine Szene, in der Juli, als er in Rage ist, eben doch über Madeleines Gewicht lästert. Gut, dass das Buch so differenziert und nicht blauäugig mit dem Thema umgeht. Die Not von Madeleine ist jedenfalls gut zu erspüren, und es ist zu hoffen, dass sie viele Leser auf- und ernst nehmen.

Bei Vincent ist das nicht viel anders. Er formuliert irgendwann selbst, dass ihn andere immer für dumm halten. In der Geschichte jedoch gibt es Dinge, die er besser kann als Juli. In dem Zusammenhang gibt es am Ende des Romans einen kleinen Ausrutscher, bei dem Jutta Wilke es dann doch übertreibt. Es taucht plötzlich etwas auf, was Juli gar nicht kann, Vincent aber doch. Wer das Buch kennt, weiß, was gemeint ist, wer es nicht kennt, für den sei Stillschweigen gewahrt. Aber dieser Pointe hätte es wirklich nicht bedurft. Das ist dann doch ein bisschen Tobak.

Der andere kleine, aber auch eher nebensächliche Kritikpunkt ist vielleicht, dass das Buch sich am Anfang zu viel Zeit lässt, bis es zum Roadmovie wird. Gut, man kann entgegnen, dass die Figur Madeleines erst aufgebaut werden muss, aber ich kann mir vorstellen, dass mancher Leser, manche Leserin nach 50 Seiten überlegen könnte, ob er/sie das Buch weiterlesen will. Ein kleiner Prolog, der auf das spätere Geschehen des Unterwegseins verweist, wäre da nicht schlecht gewesen …

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Stechmückensommer“ ist eine Jugendbuch-Hommage an Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, ja, das Buch vermittelt das Tschick-Gefühl für etwas jüngere Leser. Den Reiz des Romans macht aus, dass drei Jugendliche ins Ungewisse aufbrechen, dass sie sich mit Unerwartetem arrangieren müssen, Neues kennenlernen, Hindernisse überstehen oder davor kapitulieren müssen und vor allem mit zwei ganz anderen Jugendlichen auskommen müssen. Jutta Wilke schafft es, das alles mit einer gewissen Heiterkeit zu erzählen. Und trotzdem geht es ans Eingemachte, weil Juli den Tod seines Opas zu verkraften hat, weil Madeleine über das dauerhafte Mobbing hinwegkommen muss, weil Vincent mit vielen Vorurteilen zu kämpfen hat.

„Stechmückensommer“ zeigt, dass man Vorurteile, auch wenn es nicht leicht ist, ablegen und hinter sich lassen kann – und mehr als das. Nach drei Tagen gehen Juli, Madeleine und Vincent auseinander: reicher, glücklicher, und – das ist die Hoffnung – besser gewappnet für die anstrengenden Dinge des Alltags, die auch nach dem Trip durch Schweden auf sie warten werden. Auch wenn weiter oben ein klein bisschen gemäkelt wurde: Jutta Wilke ist ein tolles Buch gelungen, dem man viele Leser wünscht. Verdient hat es das Buch in jedem Fall.

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(Ulf Cronenberg 31.07.2018)

Kommentare (2)

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  2. Bianka Bloecker

    Wunderbar – das hat mich richtig neugierig gemacht!
    Da werde ich wohl gleich tatsächlich durch Berlins momentanen Hitzesommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …
    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose, lesefutterreiche Zeit!
    Bianka

    Antworten

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