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Buchbesprechung: Nic Stone „Dear Martin“

Cover: Nic Stone „Dear Martin“Lesealter 14+(Rowohlt rotfuchs 2018, 252 Seiten)

Ein gutes halben Jahr ist es her, dass ich „The Hate U Give“ von Angie Thomas, einen Roman über den täglichen Rassismus gegenüber Schwarzen in den USA, gelesen habe. Zufall ist es sicher nicht, dass „Dear Martin“, in dem es um das gleiche Thema geht, ein ziemlich ähnliches Cover hat. Beide Buchcover ziert außerdem noch eine Leseempfehlung von John Green, „Dear Martin“ wird zudem noch von Angie Thomas mit den Worten „Unbedingt lesen!“ umworben. All das macht mir das Buch schon fast etwas suspekt … – aber mal sehen.

Inhalt:

Justyce wird bald seine Schulzeit beenden – sein Ziel ist es, in Yale, an einer der besten Universitäten in den USA, zu studieren. Sein Mutter hat ihn, obwohl sie als Schwarze eigentlich absolut nichts mit Weißen zu tun haben will, auf eine angesehene Schule geschickt, wo Justyce einer von wenigen Schwarzen ist. Auch wenn Justyce bisher noch wenige Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, in seiner Schule fühlt er sich trotzdem eher als Außenseiter – bei Diskussionen im Debattierclub kommen auch immer wieder Vorurteile über Weiße und Schwarze zum Vorschein.

Als Justyce seiner früheren Freundin Melo, die betrunken ist, hilft – sie will in dem Zustand tief in der Nacht Auto fahren, woran Justyce sie hindern möchte –, kommt ein Polizeiauto vorbei. Der Polizist hält an, beschuldigt Justyce, Melo ausrauben zu wollen, und führt ihn schließlich mit Handschellen ab. Zwar kommt Justyce am nächsten Tag wieder frei, aber die Erfahrung, dass sein Helfen von einem Polizisten falsch interpretiert wird, dass er den Polizisten nicht vom Gegenteil überzeugen kann, ja gar nicht richtig angehört wird, kränkt ihn sehr. Justyce beschließt nicht nur deswegen, virtuelle Briefe an Martin Luther King zu schreiben, dessen Schriften er liest.

Doch es kommt bald noch schlimmer: Manny, Justyce‘ bester Freund, ist nach einem Streit mit einem Freund, bei dem es auch um rassistische Ansichten ging, total aufgebracht. Mit Justyce fährt Manny, um Dampf abzulassen, durch die Gegend und sie hören laut Musik. Als neben ihnen an der Ampel ein Wagen steht, schreit ihnen dessen Fahrer an, dass sie diese unmögliche Musik leiser machen soll. Doch Manny – sowieso schon auf 180 – dreht die Anlage noch lauter auf. Kurz darauf fallen Schüsse, Manny stirbt, Justyce wird schwer verletzt und kommt erst nach mehreren Wochen im Krankenhaus wieder auf die Beine. Wie sich später herausstellt, war der Fahrer, der geschossen hat, ein Polizist außer Dienst. Justyce verzweifelt nach dem unsinnigen Tod seines Freundes an seinen eigenen Ansprüchen und kann nicht mehr an die gewaltlosen Ideale Martin Luther Kings glauben.

Bewertung:

Es hat ein paar Absätze gebraucht, bis ich kapiert habe, dass Justyce seine Briefe an den toten Martin Luther King schreibt – denn der erste Brief ist mit „Dear Martin (aka Dr. King)“ überschrieben. Aber gut, das war meine kleine Begriffsstutzigkeit … Die Idee ist jedenfalls sehr charmant: Sein eigenes Erleben und Verhalten an den Briefen des vor genau 50 Jahren ermordeten Bürgerrechtlers zu reflektieren, ist eine spannende Sache. Ist es anfangs eher der kleine Alltagsrassismus, mit dem Justyce konfrontiert wird und über den er sinniert, so geht es nach den beiden Vorfällen mit weißen Polizisten um ziemlich heftige Sachen.

Justyce ist eine recht sympathische und glaubwürdige Figur: Er ist nett zu anderen, zeigt sich fürsorglich und ist ingesamt unauffällig. Allerdings ist er auch Außenseiter unter Schwarzen, was daran liegt, dass er fleißig und intelligent ist – und das kommt bei Gleichaltrigen nicht unbedingt immer gut an. In seinem Leben ist Justyce auf der Suche nach dem eigenen Weg. Er glaubt eigentlich an das Gute im Menschen, aber angesichts der Geschehnisse fällt es ihm immer schwerer, daran festzuhalten; und das stürzt ihn in eine tiefe Krise.

Was Büchern über Rassismus gar nicht gut tut, ist eine holzschnittartige Beschreibung der Zustände; Nic Stone behandelt das Thema jedoch größtenteils sehr differenziert. Da ist nicht alles schwarz und weiß: So hat Justyce‘ Mutter Vorurteile gegenüber Weißen und will nichts mit ihnen zu tun. Es gibt gewalttätige Schwarze, aber auch Figuren wie den schwarzen Debattierlehrer von Justyce, der besonnen ist und an die Macht der Worte glaubt, zugleich aber auch zu erkennen gibt, dass man es als Schwarzer nicht leicht hat. Und auf Seiten der Weißen gibt es in dem Buch ebenso Vorbilder wie auch ziemlich anstrengende und unsympathische Zeitgenossen.

Sarah-Jane, eine weiße Jüdin, die in Justyce‘ Debattierkurs geht, ist so ein Vorbild: eine messerscharfe Diskussionsparterin, der Ungerechtigkeiten gehörig gegen den Strich gehen – und wenn sie einmal etwas aufbringt, kennt sie kein Halten mehr. Durch Sarah-Jane kommt eine gut inszenierte Liebesgeschichte in den Roman. SJ, wie sie meist nur genannt wird, verteidigt nicht nur Justyce gegenüber Mitschülern (und zwar sehr emotional), sondern sie gibt ihm später Halt, als er ziemlich desillusioniert ist. Bis die beiden ein Paar sind, ist es ein steiniger Weg, der auch etwas mit Vorurteilen und gegenseitigen Erwartungen zu tun hat.

Ein bisschen kritteln kann man bei Sarah-Janes Figur aber dann doch. Klar, es dauert lange, bis sie und Justyce zusammenkommen, und das liegt daran, dass SJ nasse Füße bekommt, als Justyce ansetzt, sie zu küssen. Doch das ist auch der einzige, etwas übertriebene Makel, den SJ in dem Buch hat. So gern man SJ haben muss, wenn man das Buch liest – das Mädchen ist einfach zu perfekt und wirkt damit manchmal nicht so ganz real. Im Gesamtkontext des Romans ist das allerdings eine Kleinigkeit …

„Dear Martin“ spannt ansonsten ein spannendes Kaleidoskop verschiedener Textarten auf. Anfangs hab ich mich etwas über das Buch gewundert, fand es manchmal leicht hölzern, wenn auf einen Brief an Martin Luther King wieder einige Seiten erzählt wird, um dann von einer Debatte, die als Dialog wie in einem Theaterstück wiedergegeben wird, abgelöst zu werden. Das Zusammenfügen verschiedener Textarten wirkt zunächst etwas beliebig und hat etwas Unausgegorenes – doch das fiel mir nur auf den ersten knapp 50 Seiten auf. Später trägt die Spannung die Geschichte, so dass man einfach nur noch weiterlesen will und sich gar nicht mehr mit solchen Fragen aufhält. Am Ende muss man feststellen, dass diese etwas ungeschliffen-raue Mischung dieses Buch ausmacht.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. „Dear Martin“ ist ein engagiertes Buch, das einen Beitrag zur Rassismusdiskussion in den USA liefert und in den Vereinigten Staaten sicher noch brisanter ist als für europäische Leser. Vorfälle, wie sie im Buch geschildert werden, bei denen Polizisten auf Schwarze schießen, ohne dass diese wirklich eine Bedrohung waren, werden immer wieder in den Medien dargestellt. Den kleinen alltäglichen Rassismus findet man dort weniger prominent, aber es gibt ihn, und „Dear Martin“ bringt ihn gekonnt ans Licht.

Nic Stones Buch ist – von daher kann man die Cover-Ähnlichkeiten auch passend finden – so etwas wie die Kurzversion von „The Hate U Give“. Angie Thomas hat den epischeren Roman geschrieben, der etwas mehr in die Tiefe geht – doch vieles in der Anlage der Geschichte ist gleich, die Themen und Botschaften ähneln sich alles in allem. Dass „Dear Martin“ kein Abklatsch von Angie Thomas‘ Buch ist, liegt daran, dass die Autorin ihre Geschichte ganz anders erzählt und mit verschiedenen Textarten spielt. Das wirkt vielleicht manchmal etwas unbeholfen, macht aber irgendwie auch den Reiz des Romans aus. Unterm Strich hat John Green mit seinem Statement „absolut lesenswert“, mit dem er auf dem Buchcover zitiert wird, schon recht.

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(Ulf Cronenberg, 23.06.2018)

Lektüretipp für Lehrer!

Wegen seines Umfangs kann man das mehrfach oben erwähnte „The Hate U Give“ eher nicht als Klassenlektüre einsetzen – bei „Dear Martin“ lässt sich die Empfehlung angesichts der halb so großen Seitenzahl leichter aussprechen. Angesichts der Briefe, die Justyce an Martin Luther King schreibt, lässt sich das Buch zudem besonders gut an den Geschichtsunterricht andocken, wenn es um Rassentrennung in den USA geht. Für Nic Stones Buch spricht schließlich, dass der Roman sowohl für Mädchen als auch für Jungen Figuren kennt, an denen man andocken kann.

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