(Open House Verlag 2018, 254 Seiten)
Ohne einen Tipp (danke, Nils!) wäre ich wohl nicht bei diesem Buch gelandet, denn Christoph Jehlickas „Das Lied vom Ende“ ist nicht in einem der üblichen Jugendbuchverlage erschienen, sondern bei einem kleineren Leipziger Verlag. Außerdem ziert das Buch nicht unbedingt ein bucherklärendes Cover – mit dem Buchtitel zusammen kann man sich zumindest schlecht vorstellen, um was es in dem Roman geht. Hat man das Buch gelesen, wird dann allerdings schon klar, dass Cover und Titel durchaus passend sind.
Inhalt:
Das Leben in einer nicht benannten Kleinstadt ist nicht gerade einfach, denn die Welt verändert sich. Arbeitsplätze sind gefährdet, weil zum Beispiel die osteuropäische Konkurrenz billiger ist, die alten Strukturen und Sicherheiten lösen sich irgendwie auch auf, und im Privaten ist vieles brüchig. Das erleben Niko und Ben, zwei Brüder, die nicht unbedingt immer gut miteinander zurechtkommen, auch. Als ein Familienvater im Ort erst seine ganze Familie tötet und schließlich sich selbst, spitzt sich alles zu.
Für Ben ist der Familiensuizid besonders schlimm, denn er war in Sara, die Tochter in der Familie, verliebt. Lange kommt er nicht mit dem Gedanken klar, dass Sara nun tot ist. Niko, der ältere der beiden, steht dagegen vor dem Abitur. Doch vom ständigen Kiffen phlegmatisch geworden, kümmert ihn weder die Schule noch sonst im Leben groß etwas. Das führt in der Familie auch immer wieder zu Streit. Es ist vor allem Frank, der Vater von Niko und Ben, der seinem Größeren ständig vorwirft, nichts aus seinem Leben zu machen.
Frank ist allerdings nicht ganz unschuldig daran, dass es in der Familie drunter und drüber geht. Er hatte längere Zeit eine Affäre mit der getöteten Ehefrau – Ursula, Franks Frau, wusste das schon lange, hat aber eher stillgehalten. Durch den Familiensuizid wird all das jedoch wieder hochgeschwemmt … Hinzu kommt, dass Frank auch seinen Arbeitsplatz bei einer Spedition verlieren könnte. Alles Dinge, die Bens und Nikos Familie ziemlich durcheinander wirbeln.
Bewertung:
„Das Lied vom Ende“ – ja, es fühlt sich vieles in dem Buch an, als würde es einem Ende zustreben: Ben Verliebtsein in Sara findet durch die Tragödie in deren Familie ein Ende, Niko scheint gar nicht mehr Fuß fassen zu wollen und treibt im Leben so dahin, und vor allem ist bei den Eltern der beiden Brüdern eine sich ausweitende Endzeitstimmung zu verspüren. Die Luft ist dick im Hause Schult, wie Ben und Niko mit Nachnamen heißen.
Christoph Jehlicka hat sein Buch mehrstimmig aufgezogen: Den Figuren folgt man im personalen Erzählstil, wobei der Roman zwischen den vier Familienmitgliedern hin und her wechselt. Durch die so erzeugte Mehrperspektivität bekommt man das, was passiert, aus verschiedenen Blickwinkeln mit. Das bereichert die Handlung im Buch, der Erzählstil sorgt aber auch für das Tempo in der Geschichte und bringt Abwechslung hinein.
Düster ist der Roman über weite Strecken, obwohl sich Christoph Jehlicka nicht an dem Familiensuizid weidet – im Gegenteil, die Tragödie wird ohne Einzelheiten erwähnt und dient eher als atmosphärischer Hintergrund denn als Schrittmacher für die Geschichte. Gut so. Es scheint allerdings, als würde die Familientragödie im Ort ein paar versteckte Leichenteile aus den Kellern hervorholen. Und das gilt vor allem für das frühere Fremdgehen von Nikos und Ben Vater Frank, das seine Frau Ursula lange auszuhalten versucht hat. Doch angestachelt durch ihre beste Freundin kommt alles noch mal hoch, und dadurch wird die Verunsicherung und wiederbelebte Verletzung in die Familie getragen.
Was mich an „Das Lied vom Ende“ beeindruckt, sind vor allem zwei Dinge: Da ist zum einen die passgenaue Sprache. Das Buch ist im Präsenz geschrieben, mit eher kurzen, aber immer treffsicheren Sätzen. Der Ton ist leicht lakonisch, bewahrt eine gewisse Distanz zu den Figuren, die aber trotzdem ernstgenommen werden. Das passt sehr gut, denn man schaut in die Figuren hinein und gleichzeitig auch von außen auf sie.
Zum anderen wird der Roman mit großen erzählerischen Geschick und Gespür für Dramaturgie erzählt. Von August bis zum 24. Dezember erstreckt sich die erzählte Zeit – die Monate dienen als Großkapitelüberschriften. Klar, dass hier nicht lückenlos alles erzählt werden kann. Christoph Jehlicka wählt aber sehr geschickt aus, was er aus diesen fünf Monaten berichtet. Manchmal werden Ereignisse nicht ganz zu Ende erzählt, es bleiben Leerstellen, später setzt die Geschichte wieder ein. Das ist wirklich sehr geschickt gemacht. Bewundernswert.
Dass Christoph Jehlicka erzählerisches Gespür hat, zeigt auch eine Stelle, in der Niko einen Freund besuchen will, der jedoch nicht zu Hause ist. Stattdessen öffnet dessen Mutter im Bademantel die Tür und bittet ihn mit etwas Koketterie schließlich ins Haus. In meinem Leserkopf habe ich zu befürchten begonnen, dass Niko bald von der Erwachsenen verführt wird – doch die ausgelegte Spur wird dann überraschenderweise nicht bis zum Ende verfolgt und alles kommt anders. Gottseidank. Für mich war das noch mal eine Schlüsselstelle, weil sie zeigt, dass Jehlicka mit Klischees spielen kann, sie aber nicht zu bedienen bereit ist.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Man tut „Das Lied vom Ende“ nicht Unrecht, wenn man das Buch als Familienroman bezeichnet – aber es ist mehr. Es zeichnet auch ein Bild vom Leben in einer deutschen Kleinstadt und seiner Enge, gerade für Jugendliche. Hauptthema ist dennoch eine Familienkrise, deren Ursprung viele Jahre zurückliegt, die damals nicht bearbeitet wurde und nun angesichts eines tragisches Ereignisses wieder hervorkriecht. Was das bei allen Familienmitglieder anrichtet, wird aus den vier Perspektiven beschrieben: aus Sicht der Eltern, aber auch der Sicht der erwachsen werdenden Söhne.
Gelangweilt hab ich mich in diesem Roman nie – im Gegenteil, je weiter ich in dem Buch gekommen bin, umso mehr habe ich alles daran zu schätzen gewusst: die gut konturierten Haupt- wie die Nebenfiguren, den Blick, den man als Leser in ihr Seelenleben wirft, aber auch das erzählerische Geschick und die gekonnte Dramaturgie des Romans. „Das Lied vom Ende“ ist nicht als Jugendbuch erschienen, aber es ist ein Buch, in das reifere jugendliche Leser unbedingt einen Blick werden sollten. Wie Niko und Ben durchs Leben schlittern angesichts der Ehekrise ihrer Eltern, wird passend beschrieben, doch das Buch lässt einen auch in die Psyche der Erwachsenen schauen – und gerade das ist für jugendliche Leser reizvoll. „Das Lied vom Ende“ sei Lesern ab 15 oder 16 Jahren, die literarisch Anspruchsvolles mögen, dringend empfohlen – denn es hat einen anderen Ton als das, was sonst so im Jugendbuchgenre erscheint. Was für ein Buch – bitte mehr davon!
(Ulf Cronenberg, 29.03.2018)
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