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Buchbesprechung: Marit Kaldhol „Zweet“

Cover: Marit Kaldhol „Zweet“Lesealter 14+(Mixtvision-Verlag 2017, 204 Seiten)

Vor sechs Jahren ist Marit Kaldhols deutsches Debüt „Allein unter Schildkröten“ erschienen – ein Buch, das den Suizid eines depressiven Jungen und die Trauerarbeit seiner Eltern thematisiert und das mir trotz einiger Bedenken gut gefallen hat. Es hat lange gedauert, bis es ein neues Buch der Norwegerin geschafft hat, übersetzt zu werden: Mit „Zweet“ jedoch steht ein neuer Roman der Autorin in den Regalen, und er ist wieder – das sei vorweggenommen – nicht stromlinienförmig.

Inhalt:

Lill-Miriam flüchtet verschreckt auf den Dachboden der Schule, wo sie ein Geheimversteck hat. Die ganze Schule war evakuiert worden, Männer in weißen Anzügen haben alle Schülerinnen und Schüler aus der Schule geholt, in Busse gesteckt und weggefahren. Doch Lill-Miriam hatte Angst, weil sie nicht verstanden hat, was vorgeht, und ist von daher abgehauen.

Susan, eine Klassenkameradin, bemerkt schon bald, dass Lill-Miriam fehlt. Aber sie hat, wie alle anderen im Bus nichts gesagt, als gefragt wurde, ob die Klasse vollständig sei. Denn Susan hat – wie einige andere Mädchen in der Klasse – Lill-Miriam jahrelang getriezt, und seit es dabei zu einem schlimmen Vorfall gekommen ist, hat sie große Angst, dass herauskommt, was damals passiert ist. Lill-Miriam war nach dem Vorfall mehrere Monate nicht in der Schule, und als sie zurückkam, war sie stark verändert und in sich gekehrt.

Ruben hatte Lill-Miriam damals nach dem Vorfall gerettet, und seitdem hat der Junge immer wieder die Nähe zu Lill-Miriam gesucht. Miriam, wie er sie nennt, ist ein eigenwilliges Mädchen, das ihm jedoch gefällt. Sie interessiert sich intensiv für Insekten, und Miriam und Ruben verbindet, dass sie in der Klasse einen schweren Stand haben. Als Ruben mitbekommt, dass Lill-Miriam auch viele Stunden nach der Evakuierung der Schule noch gesucht wird, macht er sich große Sorgen. Doch auch er weiß nicht, wo sie steckt.

Bewertung:

So ganz einfach hat man es mit „Zweet“ (Übersetzung: Maike Dörries; norwegischer Originaltitel: „zweet“) nicht immer, und das liegt nicht daran, dass das Buch wie schon „Allein unter Schildkröten“ über weite Teile in freien Versen geschrieben. Im Gegenteil: Grundsätzlich mag ich diese bewusste Form des Schreibens sehr, weil sie Geschichten und deren Sprache verdichtet.

Der Roman geht fulminant los, indem Lill-Miriam (in Versform) erzählt, was passiert ist. Das Mädchen sitzt verstört auf dem Dachboden der Schule, hat Angst, dass es entdeckt und geholt wird, denn für Lill-Miriam ist die Evakuierung ein angstauslösendes Ereignis, das sie nicht zu verstehen scheint. Auch für den Leser bleibt vieles nebulös: Man fragt sich, was passiert ist, warum die Schule leergeräumt wurde, man fragt sich, was eigentlich mit Lill-Miriam los ist – denn, dass sie ein seltsames Mädchen ist, bemerkt man auf den ersten Seiten. Immer wieder schweift Lill-Miriam ab und schreibt ausführlich über Insekten, vergleicht die Menschen und das Leben mit der Insektenwelt und erscheint irgendwie wie von der wahren Welt abgeschnitten. „Autistisch“ war das Wort, das mir hier immer wieder in den Kopf kam, aber eine Bestätigung für meine Vermutung bekommt man in dem Buch nicht.

80 Seiten kommt Lill-Miriam zu Wort, und am Ende dieses Parts kippt das Buch, weil es zu weitschweifig und penetrant das Insektenthema aufgreift und Insektenanalogien bemüht. Da ist schon etwas Durchhaltevermögen gefragt. Und als ich mich langsam zu fragen begonnen habe, ob ich das Buch noch weiterlesen will, wechselt die Erzählerin von Lill-Miriam zu Susan. Gottseidank. Auch die Verse verlieren sich in diesem Teil des Buchs.

Susan ist eine interessant angelegte Figur, zwiespältig bis in die Haarspitzen. Sie hat Lill-Miriam mitgemobbt, sie hat bei dem Vorfall (den man als Leser erst recht spät etwas genauer geschildert bekommt) mitgemacht, aber sie hat zugleich Schuldgefühle, auch wenn sie gut verborgen sind. Und deswegen macht sich Susan auch Sorgen, wo Lill-Miriam nach der Evakuierung ist. Susan ist eine klassische Mitläuferin, keine Drahtzieherin: Sie macht mit beim Mobbing, spürt aber, dass es Unrecht ist und hat ein schlechtes Gewissen.

Knapp 50 Seiten später kommt dann bis kurz vor Ende – das Finale gehört Lill-Miriam – Ruben ins Spiel: aufgewachsen auf Kuba mit kubanischer Mutter und norwegischem Vater, während der Schulzeit nach Norwegen verpflanzt und wohl nicht allein wegen seiner anfangs schlechten norwegischen Aussprache wie Lill-Miriam ein Mobbing-Opfer. Nicht nur, weil Ruben Lill-Miriam gerettet hat, fühlt er sich zu ihr hingezogen – beide verbindet, dass sie Außenseiter und Geächtete in ihrer Klasse sind. Mit Ruben bekommt die Geschichte eine neue Wendung, denn plötzlich erzählt „Zweet“ auch die sachte Geschichte einer aufkeimenden Liebe.

Ja, geschickt aufgezogen und durchdacht ist „Zweet“ durchaus. Aber der Roman ist zugleich auch sperrig: weil er es mit dem Insektenthema übertreibt, weil er den Leser lange auf die Folter spannt, was eigentlich mit Lill-Miriam passiert ist, weil das Buch so viele Leerstellen lässt. Auch das Ende beantwortet nicht alle Fragen – obwohl ich zu einer eindeutigen Interpretation der letzten Zeilen im Buch neige: Man kann sich den Ausgang der Geschichte auch anders vorstellen.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Zweet“ ist so eigensinnig wie seine Hauptfigur Lill-Miriam – von daher könnte man sagen, dass das Buch sehr gut zu seiner Geschichte und den Figuren passt. Diese etwas sperrige Art ist einerseits das Besondere an dem Buch, andererseits wirkt sie manchmal ein bisschen übertrieben gewollt. Symptomatisch hierfür steht, dass Marit Kaldhol es mit dem Insektenthema übertreibt und jugendlichen Lesern (mir aber auch) eigentlich etwas zu viel zumutet. Da hätte man kürzen dürfen …

Auf der Habenseite gibt es über „Zweet“ jedoch auch einiges zu sagen. Mir gefällt, dass drei Personen zu Wort kommen: mit Lill-Miriam ein verstörtes gemobbtes Mädchen, mit Ruben ein Außenseiter, der sich zu Lill-Miriam hingezogen fühlt, und mit Susan auch eine Mobbing-Täterin. Das Buch bekommt dadurch eine Vielschichtigkeit, die ihm guttut. Und die freien Verse bei Lill-Miriam und Ruben, die fast wie ein Bewusstseinsstrom angelegt sind, haben ihren Reiz. „Zweet“ ist ganz bestimmt kein Buch für viele Jugendliche – sondern etwas für Leseerfahrene, die eine Herausforderung suchen.

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(Ulf Cronenberg, 07.09.2017)


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