(Mixtvision-Verlag 2017, 115 Seiten)
Es sind nicht übermäßig viele französische Jugendromane, die den Weg ins Deutsche finden – Mixtvision ist ein Verlag, der jedoch immer wieder mal ein Buch aus Frankreich im Programm hat. Christophe Léon hat laut Verlag bereits mehr als 30 Jugendbücher geschrieben und wurde vielfach ausgezeichnet, „Väterland“ scheint jedoch der erste Jugendroman von ihm zu sein, der auf Deutsch erschienen ist. Ja, ein eigenwilliger Titel, bei dem man in Ansätzen ahnt, worum es gehen könnte, und auch ein eigenwilliges Buch, wie zu zeigen sein wird.
Inhalt:
Gabrielle ist ein 12-jähriges Mädchen, das von George und Phil, einem schwulen Ehepaar, mit sechs Monaten adoptiert wurde. George und Phil sind beide Künstler, leben in der Mitte von Paris und arbeiten viel in ihrem Atelier. Immer wieder zeigen sie auf Ausstellungen ihre großartigen Werke. Zu der ungewöhnlichen Familie mit zwei Väter passt, dass Gabrielle aus Somalia stammt und dunkelhäutig ist.
Für Gabrielle ist es normal, zwei Väter zu haben, doch die Mitmenschen von ihr sehen das anders. Während das Mädchen aufwächst, verändert sich das gesellschaftliche Klima in Frankreich radikal. Was vorher erlaubt war – dass homosexuelle Paare heiraten, dass sie ein Kind adoptieren –, gerät zunehmend gesellschaftlich in Verruf. Das beginnt mit Anfeindungen im Alltag, schreitet jedoch fort, bis schließlich alle homosexuellen Paare in ein Viertel außerhalb der Stadtmitte ziehen müssen. George und Phil ist schnell klar, dass es sich dabei um ein Ghetto handelt, in das sie zwangsumgesiedelt werden – auch wenn von der Politik behauptet wird, dass die Menschen dort geschützt werden sollen. Alle Bewohner des Ghettos müssen eine rosa Raute auf ihrer Kleidung tragen.
Als die beiden Männer ohne die notwendige Erlaubnis in die Stadt fahren, um für Gabrielle ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen, gibt es Probleme. Es kommt zu einem Autounfall, dadurch wird die Polizei auf George und Phil aufmerksam. Beide fliehen und versuchen, sich vor der Polizei in Sicherheit zu bringen.
Bewertung:
Dass „Väterland“ (Übersetzung: Rosemarie Griebel-Kruip; französischer Originaltitel: „Embardée“) ein eigenwilliges Buch ist, wurde schon erwähnt. Es ist ein Zukunftsroman, der eine düstere Zukunft ausmalt, in der Homosexualität, die in den letzten Jahrzehnten in Europa zunehmend als normal angesehen wird, wieder als anormal und abartig gilt. Mal abgesehen davon, dass an einigen wenigen Stellen beschrieben wird, wie die Überwachung von Bürgern in Frankreich perfektioniert wurde und dass Drohnen Autos oder Menschen verfolgen können, wird jenseits des Themas Homosexualität wenig über die Zukunft ausgesagt. Man kann davon ausgehen, dass Christophe Léon sich absichtlich auf ein wesentliches Thema konzentriert, anderes bewusst ausspart, denn genau das macht die Atmosphäre in dem Roman dicht und bedrängend.
Neben der Flucht behandelt der Roman hauptsächlich, wie Gabrielle und ihre beiden Väter in eine existentielle Krise gestürzt werden, weil ihre Lebensform gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert wird. Für den Leser wird das Buch fast klaustrophobisch, wenn man mitbekommt, wie liebevoll und nett Gabrielles Väter sind, wie groß die Ablehnung jedoch ist, die sie erfahren. Ihnen wird fast ihr gesamtes bisheriges Leben weggenommen – dazu zählt auch, dass ihre Kunstwerke beschlagnahmt werden und sie diese nicht mehr zeigen dürfen.
Aufgebaut ist „Väterland“ sehr raffiniert. In den insgesamt 15 Kapiteln wird hauptsächlich erzählt, wie sich die kleine Familie in der Vergangenheit entwickelt hat – das Buch nähert sich in den Kapiteln nach und nach der Zwangsumsiedelung ins Ghetto an. Am Endes jedes Kapitels erzählt Gabrielle jedoch zugleich, was in der Erzählgegenwart passiert: Das Mädchen wird, während ihre Väter noch auf der Flucht sind, von einem Mann und einer Frau abgeholt. Gabrielle hat riesige Angst, sie versteckt sich unter einem Bett, kann nur mühsam darunter hervorgeholt werden und wehrt sich mit Händen und Füßen.
Mit etwas über 100 Seiten ist „Väterland“ eine sehr kompakte Erzählung – nichts ist hier ausschweifend, Christophe Léon konzentriert sich auf das Wesentliche, und das tut dem Buch gut, weil alles sehr bewusst und sprachlich dicht erzählt wird. Diese bewusste Sprache wirkt ein wenig künstlich, aber sie lässt einen mit Nähe und Distanz zugleich auf das Geschehen gucken. Das klingt vielleicht paradox, aber genau so habe ich das empfunden …
Mein erster Impuls während des Lesens war, dass das Szenario in „Väterland“ doch etwas überzogen ist. Es fehlen Erklärungsansätze, warum in der Geschichte auf einmal in Frankreich die Homophobie um sich greift. Allerdings dürfte es einen Anlass geben, warum Christophe Léon das Thema gewählt hat: Man muss an aktuelle politische Geschehnisse mit der Präsidentschaftskandidatur Marine Le Pens denken, die immerhin fast 35 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Radikaleres Gedankengut wird in Frankreich in bestimmten Kreisen salonfähig, und vor diesem Hintergrund liest man „Väterland“ wie die Warnung vor einer gefährlichen Entwicklung: weg von der Freiheit hin zu Repressionen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen.
Bei aller Betroffenheit, die das Buch auslöst: Hier und da ist mir „Väterland“ ein bisschen zu durchsichtig angelegt, weil es nicht gerade unauffällig die Schablone der Judenverfolgung aus dem Dritten Reich über die beschriebene Homophobie legt. Musste es sein, dass Homosexuelle in Analogie zum Judenstern im Dritten Reich in „Väterland“ eine rosa Raute tragen müssen? Oder ist es nötig, die Kunstwerke von Phil und George mit dem Jargon von entarteter Kunst aus dem Dritten Reich in Verbindung zu bringen? Eigene Ideen, wie eine gesellschaftliche Diskriminierung in einer naheliegenden Zukunft aussehen könnte, hätten dem Buch gut getan …
Fazit:
4 von 5 Punkten. „Väterland“ ist ein aufwühlendes Buch, sofern man sich auf das Zukunftsszenario des Buches einlassen kann. Es ist bedrückend zu lesen, wie Gabrielles liebevolle Väter auf einmal ins Abseits gestellt werden, wie ein Mädchen, das liebend von zwei Männern aufgezogen wird, auf einmal Repressalien ausgesetzt ist. Christophe Léon weiß das alles gut und eindrücklich zu erzählen. „Väterland“ ist eine dichte Dystopie, die sich auf das Wesentliche konzentriert, in die man nicht, wie in viele andere Zukunftsromane abtauchen kann – und das ist dem Thema angemessen.
Was jedoch auch erwähnt werden muss, ist, dass die Repressalien, die Gabrielle und ihre Väter erleben, nicht gerade kreativ entworfen wurden. Hier orientiert sich das Buch zu sehr an der Blaupause der Judenverfolgung im Dritten Reich. Dem Buch hätte in diesem Bereich etwas mehr Fantasie gut getan … Dennoch: Ich mag Bücher, die einen leicht verstören und aus dem bequemen Lesesessel katapultieren. Genau das gelingt Christophe Léon mit „Väterland“; und das macht dieses Buch in jedem Falle lesenwert.
(Ulf Cronenberg, 21.05.2017)
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