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Buchbesprechung: Herbert Günther „Der Widerspruch“

Lesealter 14+(Gerstenberg-Verlag 2017, 219 Seiten)

Dass ich da ein Buch von jemandem vor mir habe, von dem ich schon einiges besprochen habe, war mir gar nicht bewusst – denn Herbert Günther übersetzt seit langem mit seiner Frau Ulli Bücher aus dem Englischen, von denen ich einige gelesen habe. Dass der Autor auch selbst Jugendromane schreibt, wusste ich noch nicht. Der auffällige Umband seines Jugendromans „Der Widerspruch“ zeigt, dass es sich um einen historischen Roman handelt. Man wird als Leser in die Zeit zu Beginn der 1960er Jahre versetzt, als u. a. John F. Kennedy Präsident der USA war und dann ermordet wurde, als Konrad Adenauer als Bundeskanzler abtrat und Ludwig Erhard auf ihn folgte.

Inhalt:

1963. Der Zweite Weltkrieg ist lange vorbei, doch es gibt noch immer Spuren, die er hinterlassen hat, auch wenn Deutschland gerade mitten im Wirtschaftswunder steckt. Reni, Britta, Jonas und Robert gehen in die gleiche Schule und kennen sich. Britta ist mit ihren Eltern vor noch nicht allzu langer Zeit aus Stralsund in der DDR geflohen, so langsam gewöhnt sie sich in der Bundesrepublik Deutschland ein.

Mit Robert zusammen arbeitet sie bei der Schülerzeitung mit – doch dort kommt es zu einem Eklat, als Rektor Lauenstein eine Redaktionssitzung besucht. Er erläutert den Schülerinnen und Schülern, dass heutzutage aus allem Kapital geschlagen werde und dass die Schülerzeitung Aktien verkaufen solle – für eine D-Mark das Stück. Er legt auch gleich dreihundert Mark auf den Tisch und sichert sich so das Hauptstimmrecht bei der Schülerzeitung. Britta ist empört, weil der Rektor sich so vorbehält, alles in der Schülerzeitung zu bestimmen, und sie kann ihren Mund nicht halten. Von Herrn Lauenstein wird sie deswegen aus der Sitzung geworfen …

Auch Jonas hat es nicht einfach. Sein Vater ist nach dem Krieg gestorben – als vermeintlicher Deserteur wurde er nicht rehabilitiert. Jonas‘ Mutter hat mit der schwierigen Situation zu kämpfen und versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen – doch das missglückt gottseidank. Dennoch ist das für Jonas ein großer Schock, auch wenn seine Mutter verspricht, dass das nicht mehr vorkommen wird. Auf Jonas und seiner Mutter lastet außerdem, dass der Bruder seines Vaters als erfolgreicher Bankier beide ziemlich herablassend behandelt. Und dabei gibt es viele Gerüchte, dass er sich während der Nazizeit nicht unbedingt vorbildlich verhalten habe.

Bewertung:

„Der Widerspruch“ erzählt vom Schicksal vier Jugendlicher im Jahr 1963, einer Zeit mit – wie der Titel schon suggeriert – vielen Widersprüchen. Einerseits geht es den Menschen gut, denn in Deutschland blüht die Wirtschaft, Wohlstand macht sich breit; andererseits sind aber nach wie vor die Folgen des Krieges zu spüren – allein schon daran, dass nicht wenige alte Nazi-Schergen noch immer das Sagen haben. Dazu zählt auch Jonas‘ Onkel, ein Bankdirektor, von dem viele vermuten, dass er sich in der Nazizeit die Hände dreckig gemacht hat.

Das Buch wird bis auf den letzten Abschnitt abwechselnd aus der Sicht der vier jugendlichen Protagonisten erzählt, und jeder hat eine andere Geschichte: Britta ist mit ihrer Familie aus der DDR geflohen; Jonas wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf; Reni lässt sich von einem kommunistisch angehauchten, radikalen Studenten verführen, merkt aber bald, dass sie ausgenutzt wird; und Robert kommt aus eher normalen Verhältnissen und wird in der Schule zum Klassensprecher gewählt. Die vier Jugendlichen vermitteln mit ihren unterschiedlichen Lebenshintergründen ziemlich gut, was es bedeutete, Anfang der 1960er Jahre erwachsen zu werden.

Für den letzten Abschnitt hat sich Herbert Günther etwas Interessantes überlegt. Hier tritt als neue Figur ein junger Kommissar namens Lembek in Erscheinung, der den Brandanschlag auf das Haus von Jonas‘ Onkel, dem Bankdirektor, aufklären soll. Der Brandanschlag – das ahnt man – geht auf Renis studentischen Freund zurück. Lembek befragt dabei alle vier Jugendlichen, und so wird auf sie noch mal von einer Außenperspektive ein Blick geworfen.

Lembek ist aber vor allem auch deswegen eine interessante Figur, weil er sich nicht damit zufrieden geben will, dass der Brandanschlag aufgeklärt wird. Ihm geht es um eine größere Gerechtigkeit, denn er ist sich sicher, dass der Bankdirektor eine nicht ganz lautere Vergangenheit hat, dass außerdem Britta vom Schulrektor Unrecht getan wurde. Beidem will er nachgehen und so fordert er Jonas‘ bzw. Brittas Familie auf, sich zu wehren und für Aufklärung zu sorgen. Doch mal abgesehen davon, dass beide Familien das nicht wollen, weil sie negative Folgen befürchten, stößt Lembek auch auf Widerstand bei seinem Vorgesetzten, der keinen Dreck aufwühlen will. Lembek will sich jedoch nicht unterkriegen lassen und steht in einem heftigen Zwiespalt: Er will seine Ideale nicht aufgeben, was aber heißen könnte, seinen Beruf als Polizist zu verlieren oder zumindest seiner Karriere im Weg stünde.

Was Herbert Günther wirklich gut gelingt, ist, die Zeit der 1960er Jahre aufleben zu lassen. Dazu werden den Großabschnitten auf zwei bis drei Seiten immer kurze Satz-Schnipsel mit dem damaligen aktuellen Zeitgeschehen vorangestellt. „Der Widerspruch“ ist ein durchaus pädagogisch angelegtes Buch: Der Roman will einem das Lebensgefühl und das Zeitgeschehen Anfang der 1960er Jahre vermitteln, und das schafft er recht gut – aber nie tut der Jugendroman das mit der Brechstange, sondern immer glaubwürdig und behutsam.

Mein Eindruck ist, dass es Herbert Günther auch fast durchgängig gelingt, in den Gesprächen den Tonfall und die Sprache der damaligen Zeit wiederzugeben. Schade, dass bei ein paar Begriffen weder der Autor noch das Lektorat bemerkt haben, dass da daneben gegriffen wurde. Das Mädchen als „Zicken“ bezeichnet werden, dass der Kommissar Lembek „joggen“ geht, dass jemand als „Weichei“ bezeichnet wird – das sind (ich habe etwas recherchiert) Begriffe, die es 1963 noch nicht gab bzw. die damals nicht in unserer heutigen Bedeutung verwendet wurden. Das sind vergleichsweise kleine Unkorrektheiten, aber sie stören doch ein wenig den ansonsten recht positiven Eindruck in Bezug auf die historische Genauigkeit des Buches.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Herbert Günthers „Der Widerspruch“ ist trotz des mehrperspektivischen Erzählens ein eher altmodisches Buch – aber damit passt es wunderbar zu der Zeit, von der es berichten will. Die Aufbruchsstimmung zu Beginn der 1960er Jahre einerseits, der Mief und die konservative Stimmung, die Überbleibsel des Dritten Reiches andererseits – all das wird gut vermittelt: unaufgeregt, ohne übertriebene Dramatik. Man schlüpft als Leser in die Gedankenwelt von vier recht unterschiedlichen Jugendlichen, die auf die gleiche Schule gehen, und am Ende lernt man einen jungen Kommissar kennen, der sich fragen muss, ob er angesichts von Gegenwind seine Prinzipien, sein Berufsethos aufgeben muss.

Alles in allem ist „Der Widerspruch“, wenn man von wenigen störenden Dingen absieht, eine gelungene Geschichtsstunde – Jugendlichen heute, denen die damalige Zeit nicht mehr geläufig ist, wird auf unterhaltsame und kundige Art vieles vermittelt. Dass das gelingt, liegt wohl auch daran, dass Herbert Günther 1963 so alt war, wie seine jugendlichen Buchfiguren. Er kennt die Zeit, aber auch die Gedanken und Gefühle Jugendlicher damals aus seinem eigenen Leben. Eine gute Voraussetzung, um ein authentisches Buch zu schreiben.

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(Ulf Cronenberg, 16.04.2017)


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Kommentar (1)

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