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Buchbesprechung: Anna Woltz „Hundert Stunden Nacht“

Lesealter 13+(Carlsen-Verlag 2017, 253 Seiten)

Es ist nicht lange her, da habe ich Anna Woltz‘ Kinderbuch „Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte“ besprochen, und das Buch hat bei mir definitiv Lust auf mehr von der niederländischen Autorin hervorgerufen. Gut, dass ihr erster Jugendroman „Hundert Stunden Nacht“ nicht viel später erschienen ist. Lange liegen gelassen habe ich das erst kürzlich erschienene Buch nicht, auch wenn ich mich frage, was den Verlag bei dem Cover geritten hat. Das Cover der niederländischen Ausgabe gefällt mir jedenfalls deutlich besser.

Inhalt:

Emilia ist empört über ihren Vater, der etwas Schlimmes getan hat, was nun in allen sozialen Medien steht, und weil sie damit absolut nichts zu tun haben will, klaut sie seine Kreditkarte und plant, kurzerhand abzuhauen. So findet sie sich einige Tage später ohne Plan, nur mit einer Kreditkarte in New York wieder, wo sich die von Holland aus gebuchte Ferienwohnung als Fake erweist. Zwar gibt es unter der notierten Adresse wirklich eine Klingel mit dem entsprechenden Namen, doch der Junge, der ihr aufmacht, macht ihr klar, dass sie da wohl auf Betrüger reingefallen ist.

Die Empfehlung, sich ein Hotel zu suchen, klingt zunächst gut, aber Emilia stellt bald fest, dass sie als Minderjährige kein Zimmer bekommt. In ihrer Not will Emilia zu dem Jungen, der Seth heißt, zurück, lernt dabei Jim kennen, der sich gerade schwer am Finger verletzt hat. Bei ihm kann sie schließlich übernachten, auch wenn es ihr vor dem Chaos in dessen Zimmer graust – Emilia hat nämlich eine Schmutz- und Bakterienphobie. Aber was bleibt ihr anderes übrig …

Am nächsten Tag trifft sie Seth wieder, lernt dessen 9-jährige Schwester Abby kennen und kommt dann doch bei ihnen unter – auch weil in den Medien kurz darauf ein schwerer Hurrikane namens Sandy angekündigt wird: Man solle sich dringend zu Hause verschanzen. Seth, Abby, Jim und Emilia gründen so das Orkanasyl in Abbys und Seths Wohnung (ihre Mutter ist gerade verreist); und dort wird es dramatisch, denn irgendwann fällt der Strom aus, was unter anderem dazu führt, dass es kein fließend Wasser mehr gibt und das Mobilfunknetz zusammenbricht …

Bewertung:

In ein faszinierendes Szenario wird man von Anna Woltz in ihrem neuen Roman geworfen: Ein Mädchen flieht angesichts einer großen Familienkrise nach New York, landet in einer völlig anderen und fremden Welt, stolpert dort jedoch in eine neue Krise. „Hundert Stunden Nacht“ (Übersetzung: Andrea Kluitmann; niederländischer Originaltitel: „Honderd uur nacht“), das aus der Sicht Emilias erzählt wird, beginnt sehr fulminant mittendrin.

Wer „Gips“ gelesen hat, mag sich allerdings – wie ich – an dem gleichen Erzählkniff stören, den Anna Woltz hier wie dort verwendet: Ein Mädchen rebelliert aus gutem Grund gegen seine Eltern, was genau passiert ist, wird dem Leser jedoch ziemlich lange verschwiegen. Das hebt natürlich die Spannung beim Lesen, aber ein bisschen gewurmt hat es mich doch während der ersten Kapitel, dass der gleiche Kniff schon wieder Einsatz findet. Nachdem geklärt war, was Emilias Vater getan hat (und da ist man schon fast zur Hälfte mit dem Buch durch), wurde das Buch für mich deswegen erst so richtig packend.

Emilia und ihre neuen amerikanischen Freunde – alle vier haben so ihre Packen zu tragen – schlagen sich mehrere Tage und Nächte durchs Leben, denn der Hurrikane Sandy, den es im Oktober 2012 wirklich gab, hat die Versorgung großer Teile Manhattans lahmgelegt: Es ist dunkelste Nacht, die Heizung geht nicht mehr, die Läden sind geschlossen und aus dem Wasserhahn fließt kein Tropfen mehr. Das hat zur Folge, dass bei der kleinen Schar die Gruppendynamik ins Spiel kommt, und es geht dabei zunehmend um Elementares.

Seth und Jim z. B. können sich nicht sonderlich gut ausstehen, was wohl etwas mit Emilia zu tun hat, die beiden gefällt. Emilia wiederum bekommt angesichts Jims Brad-Pitt-Aussehen weiche Knie, findet aber auch Seth nett, auch wenn sie dessen schroffe Art Jim gegenüber daneben findet. Abby wiederum gibt bekannt, dass sie Jim einmal heiraten will, und mit Emilia ist sie außerdem bald ein Herz und eine Seele. Spannend ist, was hier alles so passiert, und es wird dabei auch immer wieder philosophisch, wenn die Figuren über das Leben an sich und über ihr Leben im Speziellen nachdenken (S. 147):

Jedes Mal, wenn ich zu Jim schaue, werden meine Knie weich. Nicht, weil ich das will, sondern weil – was weiß ich, weil Evolution so funktioniert.
Wie kann der Rest von uns auch nur die geringste Chance haben, solange es Mädchen wie Juno gibt und Jungen wie Jim? Mädchen mit echten Brüsten und wehenden Haaren, Jungen mit muskulösen Armen und scharf geschnittenen Gesichtern. Jungen, die nicht in einer Zeitkapsel gefangen sind, sondern die Welt erobern wollen und auch noch lachen, wenn sie fast einen Finger verlieren.
Es irritiert mich. Warum werden meine Knie nie weich, wenn jemand nett zu mir ist?

Das zeigt sehr schön, was alles in dem Buch steckt: Humor, Probleme, wie sie Jugendliche haben, Nachdenklichkeit und viele Fragen an das Leben. In „Hundert Stunden Nacht“ werden diese Dinge in eine kurzweilige Geschichte gepackt, in deren Verlauf sich Emilia weiterentwickelt, weil sie sich in einer doppelten Krisensituation bewähren muss. Das hilft ihr, ihre Gefühle zu ordnen und ein Stück zu sich selbst zu finden. Und als dann irgendwann nach ein paar Tagen schließlich ihre Eltern in New York stehen, hat Emilia ziemlich viel Feuer im Hintern, weil sie das alte Spiel nicht mehr weiterführen und ihr Leben neu angehen will. Gnadenlos kanzelt sie ihre Eltern ab …

Was mir an Anna Woltz‘ neuem Buch wie schon an „Gips“ gefällt, ist die rasante Art des Erzählens. Da werden Gefühle hochgeholt, die in Jugendlichen, die es nicht leicht haben, schlummern; sie werden ausagiert und auf den Leser losgelassen. Wie schon in „Gips“ geht es dabei vor allem um Familiengeschehnisse, unter denen Kinder und Jugendliche zu leiden haben, um Familienkrisen, die sie mitbekommen und die sie aushalten müssen.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Hundert Stunden Nacht“ ist ein sehr erfrischendes Buch, das ich ab der Mitte, als sich das Szenario mit seiner Gruppendynamik so richtig entfaltet, gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Klar, die Geschichte ist ein bisschen artifiziell, denn ob ein Mädchen so spontan nach New York fliegen kann, ist wie manch anderes leicht fragwürdig. Aber darum geht es letztendlich auch nicht. Anna Woltz will – davon gehe ich aus – keine reale Geschichte erzählen, sondern thematisieren, wie ein Mädchen in einer Familienkrise erst verzweifelt, dann aber zu sich selbst findet.

Anna Woltz ist eine Autorin, die ein Gespür für Dramatik hat, die – zumindest in den zwei Büchern, die ich nun kenne – Figuren mit Power kreiert, und das gefällt mir. Da geht es nicht um Gefühlsduselei, da wird kein Blatt vor den Mund genommen, da wird kein Weichspüler verwendet; nein, es geht ums Leben und da gibt es einiges zu sagen … Ich hoffe sehr, dass Anna Woltz so weitermacht. Ich werde jedenfalls auch die nächsten Bücher von Anna Woltz lesen und kann allen Lesern nach „Gips“ nun auch „Hundert Stunden Nacht“ nur sehr ans Herz legen.

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(Ulf Cronenberg, 26.03.2017)

Lektüretipp für Lehrer!

Ja, warum nicht? „Hundert Stunden Nacht“ ist durchaus für den Deutschunterricht – ich würde sagen – Ende der 7. oder in der 8. Jahrgangsstufe geeignet. Es geht um Familie, es geht um Freundschaft und ein wenig um Verliebtsein. Und darüber hinaus ist eine Geschichte, in der ein Mädchen Hals über Kopf nach New York flieht, sicher für Schülerinnen und Schüler lesenswert. Weil Jungen wie Mädchen vorkommen, ist „Hundert Stunden Nacht“ auch ein Jugendroman, mit dem eine gesamte Klasse gut leben kann.

Kommentare (6)

  1. Barbara Schöggl

    Anna Woltz hat vor Gips schon ein Buch mit dem Titel „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ geschrieben. Dieses ist auch sehr empfehlenswert. Hier geht es wieder um ein Mädchen, allerdings ein jüngeres, das ihren Vater kennenlernen will. Sie lockt ihn auf sehr einfallsreiche Weise auf die Insel auf er sie lebt in ein Ferienhaus. Ohne, dass dieser ahnt wer sie ist, denn Tess möchte ihn sich zuerst einmal ansehen und dann entscheiden, ob er von ihrer Existenz erfahren soll…Die Geschichte wird von Samuel erzählt, der Tess auf der Insel begegnet.
    Tolles Buch, aber eben typisch Anna Woltz etwas extravagant.
    Schöne Grüße aus Österreich, Barbara Schöggl
    Buchhandlung LESEWELT in Wien

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Hallo Frau Schöggl,
      ich habe das „Tess“-Buch leider nicht gelesen, aber gut, dass Sie es hier ein wenig vorstellen. Danke!
      Viele Grüße
      Ulf Cronenberg

      Antworten
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  3. Dag Tore Schulz

    Hallo Herr Cronenberg,

    ich bin – nicht zum ersten Mal – dankbar Ihrer Lektüreempfehlung gefolgt und habe nach kurzem Anlesen alles bestätigt gefunden, was Sie in Ihrer Besprechung vorgestellt haben. Also habe ich für meine 8. Klasse den Roman zur Pflichtlektüre gemacht und es im Unterricht mit Erfolg besprochen.

    Ich denke allerdings, dass eine Lektüreempfehlung für Lehrer nicht verschweigen darf, dass die „Familienkrise“ der Hauptfigur Ergebnis von Annäherungsversuchen des Vaters, eines Lehrers, an eine Schülerin war.
    Ich selbst bin ein fast fünfzigjähriger Deutschlehrer… Meine Schülerinnen vertrauen mir, sind aber auch sehr aufgeweckt und fragten mich schalkhaft, nach welchen Kriterien ich den Roman wohl ausgesucht hätte. Diese Falle hatte ich beim Lesen nicht erkannt, ich musste nun den Fehltritt des Lehrers in meinem Unterricht besprechen, und die Pubertät der Mädchen hat es nicht einfacher gemacht 😉

    Davon abgesehen möchte ich Ihnen meinen Dank aussprechen für Ihre Arbeit mit der Website, die für mich zu einer Schatztruhe geworden ist. Auch in Zukunft werde ich für meine Unterrichtsvorhaben stets Ihr Leseurteil heranziehen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dag Tore Schulz

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Hallo Herr Schultz,
      danke für Ihren Hinweis, ich hatte das gar nicht auf dem Schirm. Ja, mit solchen möglichen Schüler/innen-Fragen muss man wohl rechnen, aber spannend ist das ja irgendwie auch trotzdem.
      Viele Grüße, Ulf Cronenberg

      Antworten
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