(Hanser-Verlag 2017, 267 Seiten)
Ich mag das Cover dieses Buchs: hübsche Farben, ansprechende Gestaltung, auch wenn es vielleicht etwas kindlich für das doch alles in allem recht ernste Buch ist. Etwas Besonderes ist vor allem auch, dass das Layout im Inneren eine Fortsetzung erfährt: Jedes Kapitel wird auf der ersten Seite mit einer grauen Baumsilhouette verziert – solche Details sieht man in Büchern inzwischen leider selten. Mit „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ legt die Amerikanerin Lauren Wolk übrigens ihr Debüt vor – wer, wie ich, den Namen also nicht kennt, braucht sich nicht zu wundern.
Inhalt:
Annabelle lebt im Jahr 1945 mit ihren beiden jüngeren Brüdern, ihren Eltern, den Großeltern und einer Tante auf einer Farm. Sehr beschaulich geht es in der ländlichen Gegend zu, man kennt sich – doch das friedliche Leben hat für Annabelle ein Ende, als Betty als neue Schülerin in ihre Klasse kommt. Auf dem Schulweg lauert Betty Annabelle auf und droht ihr, ihre Brüder zu verletzen, wenn sie ihr nicht beim nächsten Mal etwas von ihren Sachen schenkt.
Annabelle erzählt davon nichts ihren Eltern, bringt das nächste Mal einen Penny als Geschenk mit, den Betty jedoch verächtlich wegwirft. Das Schikanieren nimmt von da ab seinen Lauf: Annabelle bekommt u. a. Tritte, so dass sie blaue Flecken am Bein hat. Eines Tages ist außerdem auf dem Schulweg zwischen zwei Bäumen ein Drahtseil gespannt, an dem sich einer von Annabelles Brüdern an der Stirn verletzt. Annabelle glaubt, dass Betty dafür verantwortlich ist.
Kurz darauf kommt es zu einem weiteren Zwischenfall: Der deutsche Mr. Anselm fährt während der Pause mit seinem Pferdewagen an der Schule vorbei und unterhält sich mit Annabelle und deren Freundin Ruth. Plötzlich schreit Ruth auf und sackt zusammen – sie wurde von einem Stein am Auge getroffen und muss sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Annabelle ist sich sicher, dass der Stein von Betty geworfen wurde und wahrscheinlich Mr. Anselm galt, der mit den Nazis in Deutschland in Verbindung gebracht wird. Aber Betty bestreitet das und beschuldigt stattdessen Toby, einen verwirrt erscheinenden Mann, der in der Gegend herumstreunt. Fast alle schenken Betty Glauben, Annabelle allerdings nicht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass der verschrobene Toby jemandem Gewalt antun würde.
Bewertung:
Manche Bücher lassen sich Zeit und bauen nur langsam ihre Spannung auf – das gilt auch für Lauren Wolks „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ (Übersetzung: Birgitt Kollmann; engl. Originaltitel: „Wolf Hollow“). Ganz behutsam wird man als Leser an die Lebenswelt der Ich-Erzählerin Annabelle herangeführt. Langweilig ist das Buch zu Beginn trotzdem nicht, denn man merkt schon hier, dass Lauren Wolk eine hervorragende Erzählerin ist, die einfühlsam und lebendig schreibt.
Mit dem Schikanieren, das von Betty ausgeht, kommt in die bis dahin recht behütete Welt von Annabelle etwas Bedrohliches. Dass Annabelle erst mal den Drohungen von Betty nachgibt, ihren Eltern nichts erzählt, weil sie Angst um ihre Brüder hat, ist letztendlich eine klassische Mobbingsituation. Doch das Buch bleibt nicht dabei stehen, die Geschichte wird immer komplexer, entwickelt sich weiter und wird im zweiten Teil fast zu einem Kriminalroman.
Im Zentrum steht die Frage, wer den Stein auf Ruth, die dadurch ihr Auge verloren hat, geworfen hat. Annabelle glaubt fest, dass Betty dafür verantwortlich ist, und wünscht sich nichts sehnlicher als Tobys Unschuld zu beweisen. Doch fast alle anderen sehen in Toby einen verschrobenen Kerl, der mit drei Gewehren über der Schulter herumläuft – und sie trauen ihm und nicht Betty diese Tat zu.
Für Annabelle ist es kaum auszuhalten, dass fast alle Menschen Betty auf den Leim gehen, und das Buch beschreibt die verzweifelte Gefühlslage Annabelles sehr eindrücklich. Für das Mädchen ist klar, dass sie diesen Verdächtigungen etwas entgegensetzen muss, und als sie Toby begegnet, versteckt sie ihn und beginnt – daher der Titel des Buchs – zu lügen, auch ihren Eltern gegenüber.
Warum mir Lauren Wolks Jugendroman so gut gefallen hat, dafür gibt es mehrere Gründe. Außer der Spannung, die irgendwann immer größer wird und mich nicht mehr zu lesen hat aufhören lassen, sind vor allem zwei Dinge zu nennen: Lauren Wolk gelingt es zum einen, ihre Figuren, deren Lebenswelt und die ganze Umgebung so zu beschreiben, dass ich ein gutes Bild von allem vor Augen hatte. Zum anderen ist die Geschichte dramaturgisch sehr geschickt aufgebaut und begeht keine Fehler. Was die Story aus meiner Sicht nicht vertragen hätte, wäre zum Beispiel ein wohlgefälliges Ende gewesen. Und das kommt folgerichtig auch nicht …
Was das Buch nebenbei sehr geschickt macht, ist eine Geschichte über die Folgen von Kriegen zu erzählen – allerdings indirekt, nur am Rande. Da werden die Ressentiments, die einem Deutschen gegenüber vorhanden sind, obwohl er aus Deutschland weggegangen ist, angesprochen, da wird angedeutet, dass Toby zu einem Kauz geworden ist, weil er im Krieg Schlimmes erlebt hat – was allerdings kaum jemand wahrhaben und sehen will. Wie schwer es ist, Vorurteilen etwas entgegenzusetzen, das wird in „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ thematisiert – auf sehr sympathische Weise am Beispiel eines jungen Mädchens, das an das Gute im Leben glaubt, aber mit Schrecklichem und Bösem konfrontiert wird.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Lauren Wolks Debüt hat mir sehr gut gefallen, obwohl es ein traditionell erzähltes, man könnte fast sagen, altmodisches Jugendbuch ist. Der Roman beginnt gemächlich, baut dann aber kurz vor der Mitte eine unerhörte Spannung auf, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt und die bis zum Ende andauert. „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ erzählt außerdem von vielem: von den Schrecken des Krieges, von Menschen, die anderen wehtun wollen, von Außenseitern und wie die Menschen mit ihnen umgehen – aber auch vom Stellenwert einer liebevollen Familie. Annabelles Eltern fangen das Mädchen auf, als es das erste Mal in eine wirklich schwierige Lebenssituation kommt, sie geben ihrer Tochter Halt und helfen ihr, das alles durchzustehen.
Lauren Wolks Roman ist ein Buch, das zugleich davon erzählt, wie ein Mädchen seine Kindheit hinter sich lässt und – nicht ganz freiwillig – erste Schritte in Richtung Erwachsenwerden macht. Das ist für Annabelle eine schmerzhafte Erfahrung, weil sie merkt, dass die Welt nicht nur heil ist. Lauren Wolk behandelt das einfühlsam und gefühlvoll und dennoch hochspannend in einer geschickt aufgebauten Geschichte. „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ ist großartiges Buch, das ich ohne Wenn und Aber empfehlen kann. Für mich das erste Highlight dieses Lesejahres …
(Ulf Cronenberg, 08.03.2017)
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Lesen Sie unbedingt auch „Eine Insel zwischen Himmel und Meer“. Vieles aus Ihrer obigen Bewertung würde auch auf dieses Buch passen, dennoch – oder gerade deswegen – lohnt es sich.
Lauren Wolk hat im Jahr 1999 übrigens schon ein Buch veröffentlicht, allerdings kein Jugendbuch. Das steht seit heute auf meiner langen „Noch-Lesen-Liste“.
Oh, ich habe jetzt erst mal gezögert, aber dann sollte ich wohl doch in „Eine Insel zwischen Himmel und Meer“ reinschauen … Danke für den Tipp.
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