(Carlsen-Verlag 2016, 333 Seiten)
Ganz taufrisch ist Anne-Laure Bondoux‘ neuestes Werk nicht mehr – es ist bereits im Herbst 2016 erschienen. Aber wie alle anderen ins Deutsche übersetzten Bücher der Französin – es sind inzwischen vier – wollte ich auch diesen Roman lesen. Seltsam ist der Titel ja schon (man mag sich wenig drunter vorstellen), und es sei vorweggenommen, dass das durchaus auch für die Geschichte gilt. Anne-Laure Bondoux schreibt inzwischen recht eigenwillige Geschichten, die sich Zuordnungen fast gänzlich entziehen … Aber das ist ja nichts Schlechtes.
Inhalt:
Rossalina ist eine junge Frau mit feuerrotem Haar, die vor allem auch auffällt, weil sie riesige Brüste hat. Von ihrer Mutter ist sie schon vor langer Zeit verlassen worden, und seitdem lebt sie mit ihrem Vater auf einer kleiner Farm. Lom’Pa, wie ihr Vater nur genannt wird, ist ein Säufer, er schimpft mit übelsten Ausdrücken den ganzen Tag über seine Tochter und alles, was ihm sonst so über den Weg läuft.
Rossalina muss sich um alles kümmern – sehr lebenswert ist ihr Leben auf der Farm nicht. Als Soldaten zu der Farm reiten und Rossalina vor dem nahenden Krieg warnen, beschließt sie einem schon lange gehegten Wunsch nachzugehen: Sie schnappt sich ihre zwei Kühe, sammelt ihre zusammengesammelten Verkaufswaren – vor allem Haushaltswaren – ein und bricht mit einem Planwagen auf, um ihr Glück zu versuchen. Lom’Pa wird unter wüsten Beschimpfungen einfach in den Wagen gezerrt und mitgenommen.
Rossalina nennt sich fortan Bella Rossa und will ihr Geld als fahrende Händlerin verdienen. Doch es dauert nicht lange, da gerät sie in den Krieg und wird schwer durch einen Schuss verwundet. Im Feldlazarett kämpft sie um ihr Leben, doch sie beißt sich durch und findet, als sie aus dem Koma erwacht, an ihrer Seite den Soldaten, der sie damals vor dem Krieg gewarnt hat und inzwischen einen Arm verloren hat. Bella Rossa ist von Jaroslaw, wie der aus Polen stammende Soldat heißt, verzaubert wie er von ihr. Als Bella Rossa wieder genesen ist, reist sie mit Jaroslaw und ihrem Vater gemeinsam in dem Planwagen weiter …
Bewertung:
Ja, es ist etwas komisch, wenn ich gleich im ersten Satz der Inhaltsangabe die großen Brüste von Bella Rossa erwähne – aber das ist keine Schwerpunktsetzung von mir, sondern eins der Leitmotive, die sich durch Anne-Laure Bondoux‘ Roman ziehen – schon auf den ersten Seiten bekam ich unter anderem aus diesem Grund so meine Zweifel, ob ich hier eigentlich einen Jugendroman lese. Jedenfalls werden Bella Rossas Brüste häufig thematisiert – insbesondere im Zusammenhang damit, dass alle Männer Bella Rossa deswegen und wegen ihres Lebensmuts zu Füßen liegen.
„Bella Rossas anderes Glück“ (Übersetzung: Maja von Vogel; französischer Originaltitel: „Pépites“) – ja, was ist das eigentlich für ein Buch? Schon „Der Mörder weinte“ war ein eigenwilliger Roman, eigentlich kein typischer Jugendroman. Für „Bella Rossas anderes Glück“ gilt das noch ein bisschen mehr. Was Anne-Laure Bondoux da geschrieben hat, ist ein fiktiver historischer Roman, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Mittleren Westen Amerikas spielt – zur Zeit, als der große Goldrausch im Gange war. Aber es geht der französischen Autorin natürlich nicht um eine Geschichtsstunde, sondern darum, den Lebensweg einer mutigen Frau, die viel Widriges erfährt, aufzuzeigen.
Bella Rossa ist schon eine ganz besondere Figur. Irgendwie gewinnt man sie lieb, man fiebert mit ihr mit. Viel Schlimmes macht sie durch, aber sie steht immer wieder, kämpft sich weiter und gibt nicht auf. Dabei geht es um vieles, vor allem aber um Unabhängigkeit und um die Liebe, und auch hier läuft ziemlich viel schief. Jaroslaw, der Bella Rossa anfangs ergeben zu sein scheint, entpuppt sich bald als schlechte Partie, und dennoch sagt sich Bella Rossa nicht von ihm los.
Mehrmals habe ich das Buch aus den Händen gelegt und mich gefragt, ob mir Anne-Laure Bondoux‘ neuer Roman eigentlich gefällt. „Bella Rossas anderes Glück“ ist ein ungewöhnliches Buch, es ist sperrig, es entzieht sich jedenfalls normalen Lesegewohnheiten. Das hat seinen Reiz, manchmal fragt man sich aber auch, welche Botschaft das Buch hat. Meine Antwort – und da liegt auch die Gemeinsamkeit mit allen anderen Büchern von Anne-Laure Bondoux – lautet: Die Hauptfiguren der Französin sind alle Menschen, die es schwer haben im Leben, die leiden, aber den widrigen Umständen trotzen, auch wenn sie oft kurz vor dem Verzweifeln sind. Bondoux‘ Bücher zeigen, wie schwer das Leben ist – und das gilt auch für Bella Rossa, die nach ihrem Glück sucht, es aber immer nur kurzzeitig findet.
Erzählt wird die Geschichte personal aus der Sicht Bella Rossas. Nur ein paar Mal wechselt die Perspektive kurz und springt für ein paar Absätze zum Blickwinkel einer anderen Figur (bei Jaroslaw ist mir das zweimal aufgefallen). Hat die Autorin hier nicht achtgegeben? Oder sind das bewusste kleine Perspektivensprünge? Störend sind sie jedenfalls nicht …
Eigenwillig (um ein zweites Mal das Wort zu verwenden) ist auch, wie Anne-Laure Bondoux mit der historischen Wirklichkeit umngeht. Bella Rossa erfindet recht spät im Buch – und es sieht so aus, als würde sie hier endlich ihr wirtschaftliches Glück finden – etwas, das sie zur reichen Frau macht (Vorsicht: Spoiler!): den Reißverschluss. Den haben laut Wikipedia wohl andere erfunden – macht nichts. Anne-Laure Bondoux‘ historischer Hakenschlag ist so genial wie verwunderlich, dass er fast wirklich wahr sein könnte. Und er ist, würde ich sagen, allegorisch zu verstehen: Denn am Ende entreißen die Männer Bella Rossa ihre Erfindung und machen damit das Geld, das die junge Frau verdient hätte. So war es fast immer in der Menschheitsgeschichte. Will Anne-Laure Bondoux sagen, dass es heute nach wie vor so ist?
Fazit:
4 von 5 Punkten. „Bella Rossas anderes Glück“ ist eigentlich kein Jugendbuch – was nicht heißen soll, dass man es nicht Jugendlichen zu lesen geben kann. Es ist eine Geschichte über eine Frau, die lebenstüchtiger als die sie umgebenden Männer ist, und damit eine Geschichte über Emanzipation. Und weil das Ganze geschichtlich in einer anderen Zeit verortet ist, wirkt die Geschichte exemplarisch, ja wie von dieser Welt entrückt. Irgendwie ist alles an dem Buch bizarr und doch auch faszinierend – und das erlebe ich nicht das erste Mal bei den Büchern der französischen Autorin.
Wer also mal was anderes lesen will, der ist mit diesem Buch gut beraten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jungen im Jugendalter von diesem Buch angetan sein werden, Bella Rossas Geschichte ist eher etwas für Mädchen ab 15 Jahren. Allerdings frage ich mich langsam, ob Anne-Laure Bondoux im Deutschen noch lange bei einem Jugendbuchverlag verlegt wird. Wir werden es sehen … Mutig ist es von Carlsen jedenfalls, zu der Autorin zu stehen.
(Ulf Cronenberg, 27.02.2017)
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