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Buchbesprechung: Ruta Sepetys „Salz für die See“

Cover: Ruta Sepetys "Salz für die See"Lesealter 14+(Königskinder-Verlag 2016, 308 Seiten)

Die in den USA geborene und lebende Autorin Ruta Sepetys hat litauische Vorfahren, und als Schriftstellerin, die bisher gerne geschichtliche Themen behandelt hat, kommt das baltische Land dort öfter vor. Das gilt auch für „Salz für die See“, das Anfang 1945 spielt und das wohl tragischste Seeunglück aller Zeiten behandelt, das jedoch kaum jemand kennt. Die Wilhelm Gustloff, ein Schiff mit über 10.000 Flüchtenden an Bord, darunter viele Kinder und Verletzte, wurde auf der Fahrt von Gotenhafen nach Kiel von einem russischen U-Boot mit Torpedos beschossen und sank. Mehr als 9.000 Menschen starben …

Inhalt:

Anfang 1945 werden die deutschen Truppen im Osten zunehmend von der russischen Armee zurückgedrängt, und die Deutschen, die in den Ostgebieten leben, fliehen. Es ist Winter, viele Menschen sterben auf der Flucht – vor Hunger, Erschöpfung, Kälte, oder weil sie russischen Soldaten zum Opfer fallen. Joana, die als Krankenschwester gearbeitet hat, kommt aus Litauen, hat einen deutschen Elternteil und flieht vor der Roten Armee. Den russischen Soldaten will sie nicht in die Hand fallen, denn von ihnen wurden während des Kriegs viele Litauer gefangengenommen und nach Sibirien verschleppt.

Um Joana versammelt sich eine kleine Gruppe: unter anderem ein alter Schuster, Eva, eine riesige und selbstbewusste Frau, sowie Klaus, ein Junge, dessen Oma auf der Flucht vor Erschöpfung zusammengebrochen und nicht mehr aufgestanden ist. Zur gleichen Zeit rettet Florian, ein Deutscher auf der Flucht, ein Mädchen, als ein russischer Soldat es vergewaltigen will. Emilia, das polnische Mädchen, hängt sich an Florian, was diesem gar nicht recht ist – er will alleine weiter.

Unterwegs stößt Florian auf Joana und ihre Gefolgschaft – eigentlich will er mit ihnen nichts zu tun haben, aber Joana sieht, dass er verwundet ist, und besteht darauf, ihm als Krankenschwester zu helfen. Verwundert ist Joana über das Misstrauen des Deutschen, sie fragt sich, was er zu verbergen hat, bekommt aber nichts aus ihm heraus. Doch immerhin bleiben Joana, Florian und Emilia sowie die anderen von da an zusammen. Ihr Ziel ist Gotenhafen, wo mehrere Schiffe die Flüchtenden nach Deutschland bringen sollen.

Bewertung:

Wenn man im Nachwort und in der Danksagung liest, wie umfangreich Ruta Sepetys für dieses Buch recherchiert hat, mit wie vielen Leuten sie gesprochen, dass sie sogar einige Reisen unternommen hat, um dieses Buch zu schreiben, dann ist das wirklich beeindruckend. Eine Aussage darüber, ob „Salz für die See“ (Übersetzung: Henning Ahrens; engl. Originaltitel: „Salt To The Sea“) ein gutes Buch ist, ist das natürlich noch nicht. Doch in diesem Fall haben sich die Recherchen gelohnt – Ruta Sepetys‘ Roman ist ein beeindruckendes Buch geworden.

„Salz für die See“ wird konsequent aus vier Perspektiven erzählt: Da ist Joana, die aus Litauen stammende Krankenschwester mit deutschen Wurzeln; da ist Florian, ein fahnenflüchtiger deutscher Soldat, der sich als Restaurator irgendwann ausgenutzt gefühlt hat und nun auf eigene Faust zurück nach Deutschland will; da ist Emilia, ein polnisches Mädchen, das sich vor den Russen in Sicherheit bringen will; und da ist schließlich Alfred, ein deutscher Soldat, der Hitler übereifrig dienen möchte. Die Wege der vier Personen kreuzen sich, die der ersten drei recht bald, Alfreds Schicksal dagegen verknüpft sich relativ spät mit dem der anderen Figuren. Dass alle vier Geheimnisse mit sich herumtragen, die sie verborgen halten wollen, macht einen Teil der Spannung des Romans aus. Geschickt streut Ruta Sepetys Andeutungen in den Text ein, lässt einen als Leser aber lange im Dunkeln tappen.

Mehrperspektivisches Erzählen ist nicht unbedingt ein seltener Erzählkniff, aber Ruta Sepetys, deren Vater übrigens im zweiten Weltkrieg selbst aus Litauen geflohen ist, setzt es sehr geschickt ein. Ein bis vier Seiten sind die kurzen Abschnitte der einzelnen Personen jeweils, manchmal überlappt sich der Fortgang der Geschichte und wird dann zweimal aus verschiedenen Perspektiven erzählt; meist werden die Geschehnisse aber chronologisch aus anderer Sicht fortgeführt. Lebendig wird das Buch nicht nur, weil alle vier Erzähler – wie bereits erwähnt – Geheimnisse mit sich herumtragen, sondern auch, weil die Figuren sehr unterschiedlich sind und differenziert dargestellt werden.

Vor allem Joana und Florian sind hier zu nennen – zwischen ihnen gibt es, nachdem sie aufeinander getroffen sind, große Spannungen, aber schon bald merkt man, dass da noch mehr ist. Auch Emilia ist eine vielschichtige und interessante Figur, auf Alfred dagegen konnte ich mir manchmal keinen Reim machen. Von ihm sind vielfach vor allem Briefe an seine Angebetete in Heidelberg wiedergegeben, seltsam verschwurbelte, völlig überdrehte, wenig glaubwürdige Selbstoffenbarungen und Lobhudeleien: auf Hitler, die Nazis, seine eigene bedeutsame Rolle. Sie werden gegen Ende zwar differenziert aufgelöst – alles ist anders als gedacht –, aber trotzdem blieb die Figur Alfreds für mich in dem Buch ein Fremdkörper. War sie wirklich nötig für die Geschichte? Das habe ich mich immer wieder gefragt, ohne eine eindeutige Antwort zu finden. Jedenfalls hatte ich bei Alfreds Passagen oft den Impuls weiterzublättern.

„Salz für die See“ knistert vor Spannung, und zwar fast von der ersten Seite an. Wer vorher ein bisschen was über das Buch gelesen hat und im Bilde ist, dass es darin um den Untergang des Schiffs Wilhelm Gustloff geht, weiß, auf was das Buch zusteuert: die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten, die nur ein Bruchteil der über 10.000 Passagiere überlebt hat. Anders als man es erwarten könnte, fand ich die Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen packender als den Höhepunkt selbst, auf den das Buch hinsteuert. Die Seekatastrophe wirkt im Vergleich zum restlichen Buch weniger raffiniert, ja fast etwas uninspiriert dargestellt.

Auch wenn in den letzten Absätzen Kritisches angeklungen ist: „Salz für die See“ ist ein herausragend komponiertes Buch, das noch dazu gut geschrieben ist. Und dennoch gab es noch etwas, das mich etwas irritiert hat. Für mich waren die letzten 4 Kapitel ein Epilog, weil vor ihnen ein großer Zeitsprung erfolgt. Aber Ruta Sepetys hat sie einfach, als ginge die Geschichte normal weiter, an die vorherigen Kapitel angehängt. Natürlich kann sich der Leser den Zeitsprung erschließen – aber etwas seltsam wirkt er ohne äußere Markierung doch.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ruta Sepetys‘ Roman „Salz für die See° ist eine Geschichtsstunde, die alles andere als langweilig ist, die das dunkelste Kapitel der Seefahrt in ein lebendiges Romandrama verwandelt. Wie schon bei „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ zeigt Ruta Sepetys ohne Sentimentalität die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und macht dabei nicht halt davor, dass liebgewonnene Figuren sterben. (Lina, die Hauptfigur aus „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ findet übrigens eine Erwähnung, weil sie eine Freundin Joanas ist.)

Meine oben angeführten Kritikpunkte sind alles in allem eher Kleinigkeiten – aber ich hadere dennoch damit, dass ein gründlicheres Lektorat manche der kleinen Schwächen hätte ausbügeln können. Begeistert bin ich dennoch von „Salz auf die See“, es ist ein herausragendes Buch, das literarisch anspruchsvoll ist, das dem Leser etwas zumutet und einen trotzdem in die Geschichte hineinzieht. Während des Lesens von „Salz für die See“ hatte ich immer wieder Alfred Andersch‘ „Sansisbar“ vor Augen – auch eine Fluchtgeschichte aus dem Dritten Reich, für mich ein Meilenstein der deutschen Nachkriegsliteratur. Thematisch ist hier manches ähnlich, „Sansibar“ ist allerdings einiges stringenter …

Ein typischer Jugendroman ist „Salz für die See“ nicht – das Buch können und sollten auch Erwachsene lesen (was übrigens der happige Preis von 19,90 € unterstreicht). „Salz für die See“, ihr dritter ins Deutsche übersetzte Roman, zeigt, dass Ruta Sepetys eine begnadete Schriftstellerin ist. Und ihren Weg werde ich sicher weiterverfolgen …

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(Ulf Cronenberg, 26.11.2016)

Kommentare (4)

  1. Manfred Stenz

    Gerne teile ich die Meinung dieser Kritik. Sicher ein gutes, eindrückliches Buch. Gleichzeitig aber auch ein Buch ohne wirkliches Ende.

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  2. Pingback: Jugendbuch-Geschenktipps für Weihnachten 2016 | Jugendbuchtipps.de

  3. Klaus Gasperi

    „Salz für die See“ ist zweifellos ungemein spannend zu lesen, als „hervorragend komponiert“ und „literarisch anspruchsvoll“ würde ich es aber nicht bezeichnen, unter ästhetischer Hinsicht orientiert es sich an spannenden Trivialromanen a la Dan Brown, die Handlung wird rein durch äußere Sensationen oder zurückliegende „dunkle“ Geheimnisse vorangetrieben, nicht durch innere Motive oder psychologische Entwicklungen. Außerdem ist das Buch keineswegs gut recherchiert, das ist eine bloße Behauptung der Autorin – und ob sie die zahllosen Bücher im Nachwort auch gelesen hat, ist sehr fraglich.
    Mit historischen Fakten geht die Autorin völlig beliebig um, es geht ihr immer nur um die Wirkung. So schreibt Frau Sepetys, dass sie eigens nach Gotenhafen gefahren ist, um sich ein Bild von der Landschaft zu machen – diese wird im Buch dann jedoch gar nicht erwähnt. Die Gustloff hatte einen einzigen Schornstein, weil Frau Sepetys ein Versteck für ihren Helden braucht, wird der Schornstein kurzerhand zur Attrappe erklärt.
    Zur Recherche: Die Polin erinnert sich an fünf harte Kriegswinter – es waren aber sechs; Florian hat Angst, von den Deutschen in einen Panzer gesteckt zu werden – das ist hanebüchen, Deserteure wurden erschossen, nicht in Panzer gesteckt, so viele übrige gab es davon auch wieder nicht. Joana denkt an ihren Vater, der bei den Partisanen im Wald in einem Bunker wohnt – welcher Partisan wohnt in Bunkern? Joana denkt zurück an harte Kriegswinter – die Kriegswinter in Ostpreußen waren bis Ende 1944 ausgesprochen angenehm, da es dort keine Bombardements und auch genug zu essen gab. Das mögen alles Kleinigkeiten sein, und zugegeben: Ich bin pingelig. Unerträglich aber ist es, wenn Frau Sepetys in einem „historisch fiktiven Roman“ über deutsche Geschichte Naziparolen als historische Fakten präsentiert. So schreibt sie im Nachwort bewundernd über die Operation Hannibal, dass diese das Leben von zwei Millionen Leuten gerettet habe, eine Aussage von Hitlers Nachfolger Admiral Dönitz, der sich damit selbst beweihräuchern wollte. Die Zahl wurde von Historikern mittlerweile deutlich korrigiert. Auch dass die Russen in Nemmersdorf deutsche Frauen vergewaltigt hätten, gilt heute als von Goebbels inszenierte Propagandalüge – leider verbreitet Frau Sepetys diese Propagandalügen unreflektiert, indem sie Emilia als tatsächliches Vergewaltigungsopfer der Russen präsentiert. Natürlich gab es unzählige und brutalste Vergewaltigungen durch russische Soldaten, wohl in millionenfacher Anzahl, aber in Nemmersdorf gab es höchstwahrscheinlich keine – und dass Frau Sepetys historische Fakten völlig ignoriert, weil es ihr nur darum geht, dem Leiden „der armen Menschen eine Stimme“ zu geben, das scheint mir in einem Roman mit historischem Bezug doch inakzeptabel. Dass dann auch noch die Figuren des Buches auf der Gustloff herumsitzen und die Gedanken der Autorin wiederkäuen müssen (diese armen Menschen, vor allem die Kinder haben es so schwer) klingt dann doch etwas platitüdenhaft.

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    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Danke für den Kommentar, der natürlich einiges in ein anderes Licht rückt. Mit den historischen Fakten kenne ich mich nicht ausreichend aus, um diese bewerten zu können … Aber wenn das alles so stimmt wie es im Kommentar erläutert wird (und es klingt sachkundig), dann zeigt sich einmal mehr, dass die Recherchen amerikanischer Autor/inn/en über den Zweiten Weltkrieg oft oberflächlich bleiben. Ruta Sepetys ist da nicht die erste Autorin, bei der das auffällt …
      Rückblickend würde ich heute dem Roman wohl eher 4 als 5 Punkte geben, denn die Schwächen liegen auf der Hand. Vor allem die Figur Alfreds ist seltsam, und das Sinken der Gustloff wird recht stereotyp und klischeehaft dargestellt.
      Wenn ich andere Kritiken über das Buch lese, sind sie aber noch lobender als meine Ausführungen …

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