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Buchbesprechung: Emiel de Wild „Brudergeheimnis“

Cover: Emiel de Wild „Brudergeheimnis"Lesealter 12+(Verlag Freies Geistesleben 2016, 202 Seiten)

Die diesjährige Frankfurter Buchmesse hatte den Landesschwerpunkt „Flandern und Niederlande“, und da passt das im Folgenden besprochene Buch gut dazu. Emiel de Wild ist nämlich Niederländer, und sein schon 2013 erschienener Jugendroman „Brudergeheimnis“ wurde in Holland mit zwei Preisen ausgezeichnet: dem Zilveren Griffel und dem Debuutprijs van de Jonge Jury. Ziemlich verwundert war ich, als ich erfahren habe, dass das Buch erst drei Jahre später auf Deutsch erschienen ist …

Inhalt:

Juri wird in den Ferien von seinen Eltern zu seiner Oma geschickt; reichlich seltsam findet er, dass sein großer Bruder Stefan nicht mitkommt. Doch Juri akzeptiert das, auch wenn die Verwunderung nach kurzer Zeit nicht weniger, sondern größer wird. Mit seinen Eltern telefoniert Juri ab und zu, allerdings ist Stefan, nach dem er immer fragt, angeblich nie zu sprechen. Und auch auf seinem Handy ist Stefan nicht zu erreichen. Juri beschließt deswegen, dass er Stefan wenigstens Briefe schreibt.

Als Juri nach längerer Zeit von seinen Eltern bei der Oma abgeholt wird, wird alles noch seltsamer. Seine Eltern bringen ihn nicht nach Hause, sondern an einen ganz anderen Ort. Juri kann nicht fassen, dass seine Eltern während seiner Oma-Ferien – denn das bekommt er bald mit – einfach in ein anderes Haus in einer anderen Stadt gezogen sind, ohne ihn vorher zu informieren.

Noch mehr entsetzt ist er, als er bemerkt, dass Stefan wiederum nicht da ist und anscheinend auch kein Zimmer mehr in dem Haus hat. Juri fragt bei seinen Eltern nach, wo Stefan sei, aber seine Eltern geben ihm keine richtige Antwort und flüchten sich in Ausreden. Seine Eltern verhalten sich außerdem, das ist nicht zu übersehen, mehr als merkwürdig. Das gilt insbesondere für Juris Mutter, die sich immer wieder müde in ihr Zimmer zurückzieht und regungslos auf dem Bett liegt, außerdem ziemlich dünnhäutig ist.

Bewertung:

Oh la la, was für ein Szenario, kann man da nur sagen. „Brudergeheimnis“ (Übersetzung: Rolf Erdorf; niederländischer Originaltitel: „Broergeheim“) ist ein Buch der Geheimnisse, da verspricht der Titel nicht zu wenig, und als Leser wird man dadurch, dass man alles aus der Perspektive Juris erlebt, mitten in die Geschichte hineingeworfen. So richtig warm werde ich mit Briefromanen – denn ein solcher ist „Brudergeheimnis“ – sonst oft nicht, aber hier ist das wirklich die passende Art und Weise, die Geschichte zu erzählen. Das Buch besteht jedenfalls fast nur (die kleine Einschränkung aufzulösen, hieße, zu viel verraten) aus den Briefen Juris an seinen Bruder Stefan.

Das Raffinierte an dem Buch ist, dass man mit Juri mitfiebert, dass man selbst ahnungslos ist, warum Stefan so plötzlich aus dem Leben seiner Familie verschwunden ist. Lange habe ich mich gegen dieses Szenario ein bisschen gesträubt: Wie können Eltern so verrückt sein und ihrem jüngeren Sohn nicht sagen, warum der ältere Sohn nicht mehr da ist? Das ist doch völlig übertrieben … Aber es sei verraten – und der Rest bleibt Indianergeheimnis –, dass das Szenario letztendlich stimmig ist. Denn irgendwann wird nicht nur Juri, sondern auch uns als Lesern verraten, was in Bezug auf Stefan los ist. Und es ist durchaus plausibel, dass manche Eltern so reagieren dürften wie Juris Eltern.

Ich weiß nicht, ob ich überlesen habe, wie alt genau Juri ist, aber für mich ist er ein Junge, der am Ende seiner Kindheit steht und bald ins Jugendalter hineinwachsen wird. Den Ton des Jungen trifft Emiel de Wild jedenfalls sehr gut (auch wenn er, das merkt man an der ein oder anderen Formulierungen dann doch, eine Kunstform ist). Einfühlen kann man sich in Juri – nicht nur deswegen – ohne Probleme, und das ist dafür, dass der Roman seine Wirkung entfaltet, sehr wichtig.

Im neuen Haus und in der neuen Schule geht es Juri jedenfalls gar nicht gut. Zu Hause macht er sich daran, in den Umzugskartons nach Spuren von Stefan zu suchen, um das Geheimnis vom Verschwinden des Bruders zu lüften – aber viel erfährt er da nicht. Und in der Schule ist Juri eher Außenseiter, wird aber von Lonneke, einem etwas vorlauten und leicht verwöhnten, aber irgendwie auch liebenswerten Mädchen, hofiert, das in ihm einen Gleichgesinnten sieht. Juri beantwortet in der Not, als er sich seiner Klasse vorstellt, nämlich auf die Frage nach Geschwistern, dass er keine habe – was ihm seine Mutter geraten hat. Lonneke als Einzelkind geht danach gleich verschwörerisch auf Juri zu und hängt sich an ihn wie eine Klette.

Das Erschreckende an Emiel de Wilds Roman ist letztendlich, dass man die Hilflosigkeit der Eltern aus Kindersicht miterlebt. Juris Mutter hat extreme Stimmungsschwankungen, oft ist sie übertrieben fröhlich, dann wieder kommt sie nicht aus dem Bett und ist handlungsunfähig. Mit Juris Vater ist es nicht viel anders – er drückt sich vor allem darum, Juri aufzuklären, was passiert ist. Ihre Not übertragen beide deswegen auf Juri – für den Jungen eine schlimme Sache, eine schwere Hypothek. Die Hilflosigkeit der Eltern zu erleben, ist für mitfühlende Leser ganz schön anstrengend. Am liebsten wäre ich in das Buch gesprungen und hätte Juris Eltern mehrmals einen Schubs gegeben …

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Brudergeheimnis“ hat es ohne Wenn und Aber verdient, den Weg ins Deutsche zu finden – unverständlich (das kann ich nur noch mal sagen), dass ein in Holland zweifach ausgezeichnetes Buch erst nach 3 Jahren übersetzt wird; aber besser verspätet als gar nicht. „Brudergeheimnis“ ist ein Buch, das beim Lesen fast Beklemmungsgefühle auslöst, weil man Stück für Stück miterlebt, wie ein Junge durch seine Eltern in eine völlig inakzeptable Situation gebracht wird. Klar, Juris Eltern wollen ihren Sohn schützen; dass man schlimme Geschehnisse nicht dauerhaft vor dem eigenen Sohn verbergen kann, wollen sie nicht wahrhaben und schlagen damit einen falschen Weg ein.

Emiel de Wilds Roman ist ein Plädoyer dafür, dass man in Familien über alles reden, dass man sich psychologische Hilfe holen sollte, wenn man mit einer so schwierigen Familiensituation konfrontiert wird und sich überfordert fühlt. Dass sich Eltern aus Scham krampfhaft selbst durchzubeißen versuchen, ist allerdings wohl leider durchaus real.

Emiel de Wild hat jedenfalls ein raffiniertes, ein ungewöhnliches Jugendbuch geschrieben. Bei „Brudergeheimnis“ hat mich überraschenderweise nicht eine Sekunde gestört, dass es sich dabei um einen Briefroman handelt. Und das will etwas heißen, finde ich sie sonst meist wenig überzeugend – in einer Zeit, in der so gut wie niemand mehr Briefe schreibt.

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(Ulf Cronenberg, 08.11.2016)


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