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Buchbesprechung: Gabi Kreslehner „PaulaPaulTom ans Meer“

Cover Gabi Kreslehner „PaulaPaulTom ans Meer"Lesealter 14+(Tyorlia-Verlag 2016, 117 Seiten)

Die beiden bisherigen Jugendbücher („Charlottes Traum“ und „Und der Himmel rot“) von Gabi Kreslehner, die auch Romane und Krimis für Erwachsene schreibt, waren bei Beltz & Gelberg erschienen. Keine Ahnung, warum der neue Jugendroman nun bei einem anderen, mir bisher völlig unbekannten österreichischen Verlag erschienen ist. Man könnte spekulieren: Waren Gabi Kreslehners durchaus sperrige Romane nicht erfolgreich genug? Sperrigkeit hin oder her: Beltz & Gelberg hat eine Autorin ziehen lassen, die einen eigenen Stil hat und unvergleichliche Bücher schreibt … Wundersam auch, weil das Manuskript zu dem Buch 2014 mit dem Jugendliteraturpreis des Landes Steiermark ausgezeichnet worden war.

Inhalt:

Paulas Mutter plant für ihren Vater eine große Feier, und mit dabei sein soll auch Paul, der geistig behinderte junge erwachsene Sohn, der 200 km entfernt in einem Heim wohnt. Doch Paulas Vater kann Paul nicht abholen, weil er verabredet ist (er hält es sowieso für eine bescheuerte Idee), und deswegen möchte Paulas Mutter, dass Paula sich darum kümmert.

Doch als Paula im Zug sitzt, merkt sie, dass sie eigentlich gar keine Lust hat, Paul abzuholen – überhaupt hat sie eine recht ambivalente Beziehung zu Paul, weil sich in ihrer Kindheit immer alles um den behinderten Bruder gedreht hat. Viel lieber würde Paula ans Meer fahren.

Im Zug trifft sie Tom, einen gut aussehenden Jungen, der ihr sofort gefällt; und Tom ist, wie sie von ihm erfährt, unterwegs ans Meer. Am liebsten würde sie mitfahren. Doch Paula muss aussteigen, um Paul abzuholen, aber auch Tom verlässt den Zug, um umzusteigen. Als Paula später mit Paul wieder zum Bahnhof kommt, ist Tom noch immer da. Und so entsteht die Idee: dass alle drei gemeinsam ans Meer fahren könnten. Paul hat es schließlich noch nie gesehen …

Bewertung:

Man kann sich die Geschichte von „PaulaPaulTom ans Meer“ irgendwie schon als Film vorstellen – das ging mir nicht nur so, als ich vorab die Inhaltsangabe zum Buch gelesen hatte, sondern das geht mir immer noch so, nun da ich das Buch gelesen habe. Das liegt wohl vor allem daran, dass gewisse Elemente der Geschichte schon in Filmen zu sehen waren (ich musste z. B. an „Knockin‘ on heaven‘s door“ denken). Das Meer als Ort der Sehnsucht, als Ort der Freiheit, als Ort, wo man alles hinter sich lässt. „PaulaPaulTom ans Meer“ ist ein bisschen Roadmovie, wenn auch mit dem Zug. Klimaneutral sozusagen …

Auch andere Elemente (behinderter Bruder, die Flucht mit einem Jungen, in den man sich verliebt) sind nicht gerade neu – und das kann man auch gegen dieses Buch einwenden: dass es von den Motiven her ein Geschichte mit manch Altbekanntem erzählt. Aber Gabi Kreslehners Bücher leben sowieso von etwas anderem – und das gilt auch für „PaulaPaulTom ans Meer“: von einer Sprache, die stilistisch ausgefeilt und anders ist als die anderer Jugendbuchautoren.

Den Bewusstseinsstrom (engl. stream of consciousness), ein Stilmittel, bei dem die ungeordneten und assoziativen Bewusstseinsinhalte einer Figur unmittelbar wiedergegeben werden, hat Gabi Kreslehner natürlich nicht erfunden, aber sie bringt ihn besonders konsequent in ihre Jugendbücher hinein – auch in „PaulaPaulTom ans Meer“. Was sich daraus ergibt, ist ein anspruchsvoll zu erlesendes Buch, das aber wortgewaltig daherkommt. Auf der ersten Textseite liest sich das zum Beispiel so:

Weg.
Bloß weg.
Nichts wie weg.
Mein Vater hat eine Daueraffäre mit seinen Laufschuhen. Meine Mutter mit ihren Farbtöpfen. Und ich? Hab keine Affäre. Ich hab bloß einen Bruder. Und der ist bescheuert. Aber ist das ein Wunder?
Also hau ich ab. Sollen mich doch alle am Arsch lecken. Ich vertschüss mich. Mit dem Zug ans Meer. Ans tiefste, blaueste Meer. Da versinken die Wörter und alles. Da umschmeichelt dich das Wasser wie kühlende Seide, da fällst du in das Licht zwischen Gelb und Blau, da spürst du, dass alle Sehnsucht sich … ja … erfüllt … ja …
Nein.
Quatsch. Alles Quatsch.
Ich fahr nicht ans Meer. Ich hol meinen Bruder. Ich hol ihn aus dem Heim.

Damit ist auf einer knapp halben Buchseite eigentlich schon die Grundkonstellation der Geschichte eingeführt. Gut gemacht. Gut erkennen kann man außerdem, wie hier in die Ich-Erzählung assoziative Bewusstseininhalte von Paula hineingearbeitet werden; und zudem sind schon einige Bilder, Vergleiche, Metaphern, die in dem Buch wiederkehren, eingeführt: das Meer, Farben, die Sprache.

Einen klassischen Erzählfluss gibt es in dem Roman nicht. Es sind manchmal nur wenige Zeilen lange, manchmal mehrere Seiten dauernde Episoden, immerhin chronologisch angeordnet, die hier erzählt werden – größtenteils aus der Sicht Paulas, ab und zu in kursiver Schrift in einer Mischung aus personalem Erzählstil und eingestreuten Gedankengängen aus der Sicht Pauls.

Paul ist übrigens ein Sprachspieler. Er kettet gleichklingende Wörter aneinander und formt so ungefiltert seine wenig stringenten Gedanken:

[…] der weißjetztderscheißtjetztdergeißtjetzt: Das ist das Meer. (S. 83)

Ob man diese Art, wie die Gedanken eines geistig behinderten Menschen dargestellt werden, authentisch findet, ob man sie mag, muss wohl jeder selbst entscheiden. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, fand diese Stellen etwas aufgesetzt, aber muss am Ende doch anerkennen und würdigen, dass diese Stellen zweierlei leisten: Sie bringen einem Paul näher, und sie bringen etwas Sprachspielerisches in das Buch.

Doch noch einmal zurück zur Geschichte. Dass sie vielleicht etwas klischeehaft angelegt ist, wurde bereits erwähnt. Dennoch, „PaulaPaulTom ans Meer“ ist alles in allem eine Liebesgeschichte, bei der man durch die Elemente des Bewusstseinsstroms sehr schön in die Gedankenwelt eines Mädchens blicken kann: in Paulas Zweifel, in ihre Ängste, aber auch in die Faszination, die Tom bei ihr auslöst.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Für mich zeigt „PaulaPaulTom ans Meer“, um es auf den Punkt zu bringen, dass Gabi Kreslehner etwas Besonderes unter den Jugendbuchautoren ist. Ich mag ihre Sprache, ich mag ihre Art, Geschichten zu erzählen, weil diese aus dem Inneren der Figuren entwickelt werden. Es gibt nur wenige Autorinnen und Autoren, die sprachlich so viel wagen und damit sicher auch etwas polarisieren – zu nennen wären hier vielleicht Tamara Bach oder Nils Mohl … Und ich bin dankbar dafür, dass es solche „andere“, den Leser fordernde Stimmen in der Kinder- und Jugendliteratur gibt.

Manches in dem Buch wirkt ein wenig geklaut – aber wie es eben erzählt wird, das ist einzigartig, und das ist einmal mehr, was mich für Gabi Kreslehners Bücher einnimmt. Allerdings sollte man an dieser Stelle vielleicht zugleich auch eine Warnung aussprechen: Wer auf Fantasy-Romane und Spannung steht, der sollte einen Bogen um „PaulaPaulTom ans Meer° machen. Man braucht als Jugendlicher (und irgendwie sehe ich als Zielgruppe eher Mädchen als Jungen vor meinem geistigen Auge) schon ein bisschen Wagemut, um sich auf dieses Buch einzulassen und es zu mögen. Die Mutigen werden aber auch belohnt …

blau.giflila.gifrot.gifgelb.gifgruen.gif

(Ulf Cronenberg, 12.07.2016)

P. S.: Das Buch hätte einen besseren Werbeslogan, als den auf der Buchrückseite verdient: „Ein beeindruckender Coming-of-Age-Roman“ ist nicht nur einfallslos, sondern klingt beliebig und ist damit fast peinlich. Klar, Paula wird durch die Reise erwachsener, aber davon erzählen Hunderte von Jugendromanen – durchaus auch beeindruckend.


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Kommentar (1)

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