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Buchbesprechung: Carla Maia de Almeida „Bruder Wolf“

Cover: Carla Maia de Almeida "Bruder Wolf"Lesealter 11+(Fischer/Sauerländer-Verlag 2016, 173 Seiten)

Ein Kinderbuch aus dem Portugiesischen? Ich glaube, ich habe noch nie eines besprochen, und wahrscheinlich gibt es auch kaum welche, die ins Deutsche übersetzt wurden. Umso schöner, wenn ein portugiesisches Buch den Weg in deutsche Bücherregale findet – ich empfinde es jedenfalls als große Bereicherung, dass wir Bücher aus anderen Ländern und Kulturkreisen lesen können. Erwähnt werden sollte vielleicht schon hier außerdem, dass „Bruder Wolf“ reich illustriert ist – und zwar von Jorge Gonçalves, der wie die Autorin aus Portugal stammt.

Inhalt:

Bolota – ihr Name bedeutet übersetzt so viel wie „Krümel“ – ist acht Jahre alt, als ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt wird. Als 15-Jährige zurückblickend hat sie das Gefühl, dass damals ihre Kindheit endete. Jedenfalls verliert ihr Vater seine Arbeit, und auch wenn Bolotas Mutter danach mehrere Jobs gleichzeitig hat, so scheint das Geld immer weniger zu werden.

So muss die Familie, zu der außerdem Bolotas größerer Bruder, ihre größere Schwester sowie ihr Hund Malik gehören, mehrmals umziehen, und aus Haus mit Garten werden immer kleinere Wohnungen. Dass Malik eines Tages von Bolotas Vater weggebracht wird, angeblich weil er sich in der neuen kleinen Wohnung nicht wohlfühlt, ist das für Bolota schlimm – zumal das Mädchen ahnt, dass der Grund ein anderer ist.

Doch das ist nicht alles. Zwischen Bolotas Eltern nehmen die Streitereien zu, bis sie sich irgendwann trennen. Bolota verbringt von da ab die Wochenenden meist bei ihrem Vater. Und eines Tages bricht Bolotas Vater mit seiner Tochter auf, um zu dem leerstehenden, seit langem verlassenen Haus seiner Eltern zu fahren. Er verspricht Bolota ein schönes Haus mit Garten, das nur noch etwas hergerichtet werden müsse, bevor sie darin leben könnten. Für beide beginnt eine abenteuerliche Reise, die anders als gedacht endet.

Bewertung:

Was für ein Schmuckstück „Bruder Wolf“ (Übersetzung: Claudia Stein; Originaltitel: „Irmão Lobo“) doch ist – das fällt einem gleich auf, sobald man das Buch in die Hand nimmt und darin blättert. Das Kinderbuch präsentiert sich mit stilsicheren Illustrationen im Zweifarbendruck (Dunkelhellblau und Schwarz), die Kapitel sind abwechselnd auf weißem oder blauem Papier gedruckt. Mir kommen da sofort die Maulina-Bücher von Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring in den Kopf, die ähnlich bezaubernd gestaltet sind.

Auf den ersten Seiten hatte ich bei „Bruder Wolf“ etwas Anlaufschwierigkeiten, weil mir die ganzen Spitznamen für die Familienmitglieder um die Ohren geflogen sind und mich ganz durcheinander gebracht haben – Bolota vergleicht ihre Familie immer wieder mit einem Indianerstamm und hat an die Mitglieder Spitznamen verteilt. Bolotas Vater ist Schwarzer Elch, wird aber, wenn er mal wieder unzugänglich ist, zum Mann aus Eis; ihre Mutter wird Blanche genannt, obwohl sie eigentlich Celeste heißt; ihre Geschwister nennt Bolota Fossil und Miss Kitty, und Malik ist Bruder Wolf. Vielleicht lagen meine Orientierungsschwierigkeiten zu Beginn jedoch auch daran – ein erschwerender Umstand –, dass ich das Buch müde kurz vor dem Schlafen begonnen hatte. Am nächsten Tag, etwas frischer, hat es dann nicht lange gedauert und „Bruder Wolf“ hat mich gefesselt, wie das Kinderbücher selten tun.

Die grafische Gestaltung des Buchs ist mit der Geschichte verknüpft, so ist zum Beispiel der Wechsel der Hintergrundfarbe bei den Kapitel nicht zufällig. Auf den weißen Seiten wird Bolotas Reise mit ihrem Vater zum Haus von dessen Eltern erzählt, während auf blauen Hintergrund beschrieben wird, wie es vorher in der Familie gekriselt und sich alles zugespitzt hat. Auch sonst ergänzen sich Text und Illustrationen, die manchmal eine Seite, manchmal auch Doppelseiten ausfüllen. Gekonnt ist es jedenfalls, wie grafische Gestaltung und Geschichte über das ganze Buch hinweg ineinandergreifen.

Illustration aus „Bruder Wolf" (S. 131) – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Fischer-Verlags (Sibylle Bachar)

Illustration aus „Bruder Wolf“ (S. 131) – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Fischer-Verlags – genauer Copyright-Nachweis am Ende der Buchbesprechung

Wie Carla Maia de Almeida ihre Hauptfigur Bolota vom Auseinanderbrechen ihrer Familie erzählen lässt, das ist außerdem etwas ganz Besonderes. „Kurz vor dem Sommer der Großen Durchquerung der Todeswüste trennten sich die Angehörigen des Stammes endgültig voneinander. Schwarzer Elch zog aus der neuen-alten Wohnung aus und holte mich an den Wochenenden zu sich.“ (S. 159) Ich habe keine Ahnung, wie Carla Maia de Almeida auf die Idee mit dem Indianerstamm gekommen ist, aber hier wird eben nicht einfach die Trennung der Eltern aus der Sicht eines Kindes erzählt, sondern durch diese allegorische Erzählweise bekommt das Buch etwas Traumwandlerisches, das einen besonders anrührt. Verzaubert lässt einen das zurück.

„Bruder Wolf“ ist für mich ein Buch zum mehrmaligen Wiederlesen – ich kann mich nicht erinnern, dass ich in letzter Zeit ein Buch gleich zweimal hintereinander gelesen habe. Bei „Bruder Wolf“ kann ich es aber nur empfehlen, denn man bemerkt dann Dinge, die einem beim ersten Mal entgehen. Und man kann, wenn man den Ausgang der Geschichte kennt, Sprache, Metaphern und Erzählanlage ganz anders würdigen. Und hier ist einiges geboten.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ich bin hin und weg von diesem Buch, denn hier passt einfach alles. Mir gefällt die schlaglichtartige Erzählweise, ich bewundere, wie stilsicher und gekonnt das Buch davon erzählt, wie eine 15-Jährige sich in ihr Leben als 8-Jährige zurückversetzt und das Auseinanderbrechen ihrer Familie beschreibt; und ich bin verliebt in die Illustrationen, in die Gesamtgestaltung des Buchs, die so trefflich ist. Eigentlich wird hier ja von etwas ziemlich Tragischem berichtet, aber „Bruder Wolf“ schafft einen besonderen Spagat: Es ist leicht und trotzdem schwer. Auch hier erinnert es ein wenig an die bereits erwähnten Maulina-Bücher.

Bleibt die Frage, wem man dieses Kunstwerk in die Hand drücken kann. „Bruder Wolf“ ist in jedem Fall etwas für Erwachsene, ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es insbesondere ein Buch für Erwachsene ist. Wie alt junge Leser sein sollten, um das Buch zu lesen, ist eine gar nicht so leicht zu beantwortende Frage. Carla Maia de Almeidas Buch ist anspruchsvoll, ist auf den ersten Blick ein Kinderbuch, das aber einiges vom Leser fordert. Man braucht – das ist meine Einschätzung – junge Leser, die aufmerksam und offen für Neues sein müssen, und ich habe hier in meiner Vorstellung eher Mädchen als Jungen im Kopf. Ab 10 oder 11 Jahren lässt sich das Buch am besten gemeinsam Lesen – in der Familie, in der Klasse. Und als „Selbstleser“, würde ich sagen, sollte man mindestens 12 Jahre alt sein.

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(Ulf Cronenberg, 01.07.2016)

Lektüretipp für Lehrer!

Wahrscheinlich braucht man für dieses Buch – ich würde es am ehesten in der zweiten Hälfte der 5. oder ersten Hälfte der 6. Jahrgangsstufe lesen – eine besondere Klasse, eine Klasse, die experimentierfreudig und feinsinnig ist, eine Klasse, die damit leben kann, dass dieses Buch nie richtig spannend ist, sondern eher subtil etwas erzählt, was manche Kinder kennen dürften: wie es in einer Familie kriselt und diese schließlich auseinanderbricht. „Bruder Wolf“ muss man sich mit einer Klasse erarbeiten.

Eigentlich wollte ich hier auch noch das Vorlesen in einer Klasse empfehlen, aber ich habe es in einer 6. Klasse versucht, und es hat sich herausgestellt, dass die Geschichte doch zu komplex ist, um Begeisterung bei den Schülerinnen und Schülern auszulösen …

Illustrationsnachweis:
aus: „Bruder Wolf“ von Carla Maia de Almeida und António Jorge Goncalves (© Text: Carla Maia de Almeida; © Illustration: António Jorge Goncalves)
The edition is published under license from Editora Planeta Tangerina, Portugal. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016


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Kommentar (1)

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