(Arena-Verlag 2016, 400 Seiten)
Es ist fast sieben Jahre her, dass ich das letzte Buch von Isabel Abedi gelesen habe – davon war ich selbst überrascht, als ich nachgeschaut habe. „Lucian“ ist 2009 erschienen, und seitdem gab es meines Wissens auch keinen Jugendroman der in Hamburg lebenden Autorin mehr – obwohl sie mit ihren bisherigen Jugendbüchern durchaus erfolgreich war und wohl auch einen festen Leserinnen-Kreis (es waren wohl eher Mädchen als Jungen) hatte. Übrigens: Dass ich mir „Die längste Nacht“ als Lektüre ausgewählt habe, hat auch ein bisschen was mit meiner Vornahme zu tun, ab und zu auch mal etwas anderes als sonst zu lesen …
Inhalt:
Das Abi ist bestanden, und Vita will mit ihren beiden besten Freunden Trixie und Danilo, die ein Paar sind, in Europa auf Urlaubstour gehen. Lange haben sie extra auf einen Bulli fürs Rumreisen gespart, und mit dem orangen Kleinbus brechen sie zunächst nach Italien auf, von wo aus es in weitere Länder gehen soll. Ihr erstes Ziel ist Florenz. Als sie von dort aus weiterfahren, sieht Vita auf der Landkarte einen Ort namens Viagello, dessen Namen ihr kurz vorher begegnet ist.
Vitas Vater leitet einen Verlag, und als Vita kurz vor ihrer Reise in das Zimmer ihres Vaters geschlichen war, hatte sie dort das Manuskript des Erfolgsautors Sol Shepard liegen gesehen. Nur eine Seite konnte sie lesen, bevor ihr Vater sie aus dem Zimmer geschmissen hatte. Der Auszug brachte jedoch etwas in Vita zum Klingen, ohne dass sie verstand, warum. Jedenfalls spielte der Roman in Viagello.
Vita ist neugierig, und so machen Vita, Trixie und Danilo in Viagello – eher ein Dorf als eine Stadt – Halt. Sie besuchen einen Markt, und dort balanciert über den Dächern auf einem Seil ein Junge, den Vita fast zum Absturz bringt, weil sie keine Menschen in Höhen sehen kann und dementsprechend laut aufschreit. Den Jungen namens Luca lernen sie kurz darauf kennen. Vita fühlt sich zu ihm vom ersten Augenblick an hingezogen, und er lädt die Drei ein, mit ihrem Bulli auf dem Anwesen seiner Eltern zu übernachten. Seltsam, dass Luca auch Deutsch spricht – wie sich herausstellt, hat er eine deutsche Mutter.
Dass irgendetwas Seltsames in Vita vorgeht – nicht nur, weil sie sich zu Luca hingezogen fühlt – bemerkt das Mädchen schon bald. Sie hat Déjà-vus an frühere Erlebnisse, die sie nicht zu deuten weiß – und das alles hat wohl etwas mit Viagello und Luca zu tun, außerdem mit einem Tabuthema in Vitas Familie: Ihre große Schwester Livia ist vor vielen Jahren angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen – doch die Zweifel, ob das stimmt, werden bei Vita immer größer …
Bewertung:
Wenn das Leben hektisch ist (und das ist es gerade), fällt es mir manchmal nicht so ganz leicht, mich längere Zeit in einen Sessel zu setzen oder aufs Bett zu legen, um gemütlich in einem Buch zu lesen. Für die 400 Seiten von „Die längste Nacht“ habe ich dementsprechend lang gebraucht – es ist ein Buch, für das man etwas Muße mitbringen sollte, das sich insbesondere für ein verregnetes Wochenende oder für lange Abende eignet. Überrascht hat mich das, weil ich „Lucian“, Isabel Abedis letzten Jugendroman, kenne, nicht. Isabel Abedi ist eine Erzählerin, die ihre Geschichten gerne breit anlegt.
„Die längste Nacht“ erzählt eine sehr durchdacht und gekonnt konstruierte Geschichte, hinter der sicher ein langer Entstehungsprozess steht. Die zu Beginn sorgsam ausgelegten Fäden (und es sind viele) werden jedenfalls Stück für Stück bis zum Ende zusammengeführt. Am Anfang ist vieles für den Leser schlecht durchschaubar; das gilt insbesondere für die ab und zu vorkommenden kursiven Zwischenkapitel, die nur ein bis drei Seiten lang sind. Sie lassen einen anfangs ratlos zurück – man muss darauf vertrauen, dass sie später einen Sinn ergeben. Während der Roman ansonsten in Ich-Form von Vita erzählt wird, tritt in diesen kurzen, personal erzählten Passagen eine geheimnisvolle Person in Erscheinung, die Andeutungen macht, auf die man sich lange keinen Reim machen kann.
Isabel Abedis neuer Jugendroman handelt vor allem von einem gut gehüteten Familiengeheimnis, das vor Vita verborgen gehalten wurde. Vita spürt nur, dass etwas nicht stimmt, sie merkt auch, dass die Lasten, die sie mit sich herumschleppt (z. B. in Albträumen), etwas mit diesen Geheimnissen zu tun haben. All das wird in Viagello, und Vita kann sich das lange nicht erklären, immer bedrängender; und weil sie irgendwann weiß, dass die Geheimnisse etwas mit dem kleinen italienischen Ort zu tun haben, wird Vita im Verlauf des Buchs mit Unterstützung von Luca quasi zu einer Art Detektivin. Dass man als Leser auch sehr lange im Dunkeln tappt, Vita nie einen Schritt voraus ist, zeigt, wie gut „Die längste Nacht“ konzipiert ist – und das sorgt natürlich für Lesespannung.
Was Isabel Abedi darüber hinaus sehr gut kann, ist, die Gefühle und Gedanken von Personen zu fassen. Die vielen widerstrebenden Gefühle, die in Vita, aber auch in anderen Personen kämpfen, werden mit einer bildreichen, manchmal fast lyrischen Sprache sehr genau ausgelotet. Der Text bleibt dabei immer gefällig und liest sich flüssig. „Die längste Nacht“ ist ein durch und durch episches Werk, das sich viel Zeit zum Erzählen nimmt. Für ungeduldige Leser ist das nicht unbedingt etwas, und ich tue Isabel Abedi wohl außerdem nicht unrecht, wenn ich schreibe, dass das Buch wohl eher Mädchen lesen werden; denn ihnen dürften der Erzählstil und die Geschehnisse im Roman eher zusagen als Jungen.
Das liegt auch daran, dass in „Die längste Nacht“ doch einiges an Romantik steckt. Luca und Vita spüren von Anfang an, dass sie zusammengehören (auch wenn es zwischendrin einige Krisen gibt), und auch sonst geht es in vielem um Beziehungen, die aber zum Teil auch als tragisch bezeichnet werden können. Den Kern des Buchs macht neben dem Familiengeheimnis eben doch die Liebesgeschichte aus, und wie sie dargestellt wird, sagt sicher eher weiblichen Lesern zu.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Die längste Nacht“ ist ein Buch, das gut erzählt wird, in das am Anfang kleine Irritationen eingestreut sind, die sich dann im Laufe des Buchs zu einer immer spannender werdenden Geschichte aufbauen. Fast linear zeigt der Spannungsbogen nach oben, und auf den ersten gut hundert Seiten darf man von kleineren Anspielungen abgesehen nicht allzu viel Spannung erwarten. Isabel Abedis neuer Jugendroman ist ein Buch zum Eintauchen, ein Buch zum Abtauchen – Voraussetzung ist, dass man sich von der leicht mysteriösen Geschichte in Bann schlagen lässt.
Auch wenn das sicher nicht „mein“ Buch ist (ich bin eben doch kein Mädchen in Jugendjahren 🙂 ): Ich finde die Geschichte um Vita bewundernswert flüssig geschrieben, ich halte sie für gekonnt konzipiert und kann verstehen, wenn dieses Buch eine breite Leserschaft findet. Sehr viele männliche Leser werden darunter allerdings nicht sein. Aber das muss ja auch nicht so sein.
(Ulf Cronenberg, 06.05.2016)
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