(Thienemann-Verlag 2016, 266 Seiten)
Ganz unbedarft bin ich an „Sturmfrühling“, den neuen Jugendroman von Inge Barth-Grözinger, herangegangen, ohne mich vorher über das Buch informiert zu haben. Doch schon bald erinnerten mich manche Namen an ein anderes Buch der Autorin, das ich vor fünf Jahren gelesen habe. Und in der Tat: „Sturmfrühling“ könnte man als Fortsetzung der Geschichte von „Stachelbeerjahre“ bezeichnen. „Sturmfrühling“ setzt die Geschichte Mariannes, eines Mädchens aus einem Schwarzwald-Dorf, das nun in Heidelberg studiert, fort – in der spannenden Zeit Ende der 1960er Jahre.
Inhalt:
Marianne geht nach ihrem Abitur nach Heidelberg, um dort Germanistik zu studieren. Ihre Schwester und ihre Mutter lässt sie in einem Schwarzwald-Dorf zurück – beiden geht es nach dem tragischen Ende von Enzo (das in „Stachelbeerjahre“ erzählt wird) nicht gerade gut. Marianne ist froh, dass sie den Mief und die Enge des Dorfes hinter sich lassen kann und freut sich auf ihr Studium.
Am meisten fasziniert ist Marianne von Professor Felsmann, der als Fachmann für die Romantik gilt und dessen Begeisterung für die literarische Epoche auf sie übergreift. Dabei ist die Romantik mit ihrer Weltflucht nicht gerade das, was dem Zeitgeist im Jahr 1967 entspricht, wo die Studentenproteste gegen reaktionäre Strukturen und gegen die Nazi-Vergangenheit vieler Würdenträger beginnen.
Als Marianne auf David, einen der studentischen Wortführer der Proteste in Heidelberg, trifft, fühlt sie sich zu diesem hingezogen, obwohl ihre Lebenswelten so unterschiedlich sind. Marianne versteht in vielem nicht die Radikalität, mit der David gegen die alten Strukturen aufbegehrt, während David wiederum Marianne wegen ihres Faibles für Romantik oft belächelt. Trotzdem werden die beiden ein Paar. Marianne gerät dadurch in die Wirren der Studentenproteste, die immer heftiger werden …
Bewertung:
Auf den ersten 30 bis 40 Seiten war ich von „Sturmfrühling“ erst mal etwas irritiert und habe schon überlegt, ob ich das Buch wieder zur Seite legen soll. Der Grund dafür war, dass ich vom Sprachstil her das Gefühl hatte, ein Buch aus den 1920er oder 1930er Jahren zu lesen, während der Roman Ende der 1960er Jahre spielt. Ich kann nicht so recht sagen, ob ich mit meinem Empfinden recht habe – aber für mich passte der Schreibstil nicht zur erzählten Zeit. Gestolpert bin ich dann auch noch über einzelne wenige Begriffe wie „vorglühen“ (gemeint ist „sich für eine Party ˛warmtrinken‘“), die es damals noch nicht gegeben haben dürfte. Ja, ich weiß, es ist nicht einfach, historische Romane zu schreiben, und ich weiß auch, warum ich oft mit diesen nicht so richtig warm werde …
Doch dann hat es nicht lange gedauert, und irgendwann waren meine Bedenken weg – entweder hatte ich mich an den Schreibstil gewöhnt oder er hat sich geändert, außerdem wurde das Buch spannender, als Marianne David kennenlernt und dadurch mit der Welt der Studentenproteste konfrontiert wird. Der etwas bedächtige Einstieg des Buchs war schnell vergessen, und von da an wollte ich das Buch auch nicht mehr aus der Hand legen.
Sehr geschickt baut Inge Barth-Grözinger ihre Geschichte auf. Indem sie mit Marianne eine Figur in den Mittelpunkt stellt, die den 68er Unruhen in vielem skeptisch gegenüber steht, die zugleich aber mit David, einem Aktivisten, verbandelt ist, können das Geschehen dieser Zeit sowie die Unruhen sehr differenziert dargestellt werden: Man ist nah dran und kann als Leser trotzdem mit Distanz auf die Geschehnisse blicken. Man versteht einerseits, dass die Studenten sich gegen die alten Seilschaften, Überbleibsel des Dritten Reichs, wehren, andererseits ist man als Leser auch von der kompromisslosen Radikalität der Studenten-Rädelsführer abgeschreckt.
Inge Barth-Grözinger lässt in „Sturmfrühling“ indirekt – das war mein Eindruck – ihre Haltung zu den 1968er Protesten durchschimmern, die ich eher als konservativ und kritisch beschreiben würde. Zwar werden die Proteste gegen die reaktionären Strukturen zum Teil als berechtigt angesehen, ingesamt kommen die Proteste aber nicht wirklich gut weg. Indem David sich im Buch zunehmend radikalisiert und in Richtung RAF geht, wird der Schwerpunkt im Buch eher auf die Probleme als auf die Berechtigung der Proteste gelegt.
Man mag die 68er Bewegung anders bewerten als die Autorin, aber was Inge Barth-Grözinger in jedem Fall gelingt, ist die Stimmung der damaligen Zeit einzufangen. „Sturmfrühling“ wird dabei – das kennt man übrigens schon aus „Stachelbeerjahre“ – am Ende des Romans fast noch zu einem Krimi. Denn Professor Felsmann, das ahnt Marianne schon länger, hat etwas aus seiner persönlichen Vergangenheit zu verbergen – und dem kommt Marianne irgendwann auf die Spur …
Interessant ist schließlich noch, dass die Autorin Figuren, die es wirklich gab, mit fiktiven Figuren mischt. Gundrun Ensslin und Andreas Baader, die beiden RAF-Terroristen, übernachten zum Beispiel einmal in der WG, in der David und Marianne wohnen. Kontakte der beiden Terroristen nach Heidelberg gab es sicherlich: Man geht davon aus, dass sie an einem Anschlag im Mai 1972 in Heidelberg beteiligt waren – siehe Zeittafel der Roten Armee Fraktion in der Wikipedia, ob sie aber wirklich auch dort übernachtet haben, sei dahingestellt.
Fazit:
4 von 5 Punkten. Auch wenn ich den Einstieg in das Buch etwas schwierig fand, „Sturmfrühling“ hat mich bald gepackt. Der Roman erzählt dramaturgisch gekonnt von einer dramatischen Zeit der deutschen Geschichte und macht damit jüngere Zeitgeschichte erleb- und nachvollziehbar. Dass Inge Barth-Grözinger den Studentenprotesten gegenüber eine eher kritische Haltung gegenüber zu haben scheint und vielleicht ein bisschen zu wenig deren Bedeutung für eine Neuorientierung Deutschlands aufzeigt, hat mich ein wenig, aber nicht richtig gestört. Jugendlichen Lesern, die kein sonstiges Hintergrundwissen über diese Zeit mitbringen, mag hier – die Bedenken bleiben – eine etwas zu einseitige Sicht vermittelt werden.
Jenseits dieser politisch-geschichtlichen Fragen hat Inge Barth-Grözinger jedoch ein spannendes Buch geschrieben, das vor allem von seiner Hauptfigur Marianne lebt. Mariannes Zerrissenheit, ihr Suchen nach einem eigenen Weg zwischen manchmal etwas weltferner Wissenschaft und politischen Protesten macht das Buch authentisch. Kein Wunder – es ist davon auszugehen, dass hier manches Persönliche aus Inge Barth-Grözingers Leben in das Buch Einzug gehalten haben dürfte. Jedenfalls hat Inge Barth-Grözinger wohl selbst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in Heidelberg studiert, wenn meine Recherchen, die nicht ganz einfach waren, zu richtigen Ergebnissen geführt haben.
(Ulf Cronenberg, 14.04.2016)
Lektüretipp für Lehrer!
„Sturmfrühling“ ist – das kann man sich denken – ein passendes Buch für den Geschichtsunterricht, wenn die 1968er Proteste behandelt werden (und ich hoffe, das werden sie heutzutage – in meinem Geschichtsunterricht war leider immer kurz nach 1945 Schluss). Man kann das Buch z. B. in einem Schülerreferat vorstellen lassen. Aber auch als Lektüre im Deutschunterricht (ab der 9. Klasse) – am besten, wenn man Deutsch und Geschichte fächerübergreifend unterrichtet – bietet sich „Sturmfrühling“ an, auch wenn ich mir vorstellen könnte, dass Mädchen das Buch besser als Jungen gefällt. Aber es müssen ja nicht immer alle Schüler/innen das gleiche Buch lesen … Warum sollte man nicht im Deutschunterricht ein Projekt durchführen, in dem die Schülerinnen und Schüler in Gruppen Romane, in denen es um die jüngere Zeitgeschichte geht, lesen und sich gegenseitig vorstellen?
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