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Buchbesprechung: Jesper Wung-Sung „Opfer“

Cover Jesper Wung-Sung "Opfer"Lesealter 14+(Hanser-Verlag 2016, 142 Seiten)

Dänemark. Nicht gerade viele Jugendromane aus dem relativ kleinen Land finden als Übersetzungen den Weg in deutsche Jugendbuchverlage. Bjarne Reuter war hier früher ein bekannter Name – in den letzten Jahren gab es außerdem Janne Teller, die mit ihrem provozierenden Jugendbuch „Nichts“ für einige Diskussionen gesorgt hatte. Der Hanser-Verlag, wo auch „Nichts“ auf Deutsch veröffentlicht wurde, nimmt sich bei „Opfer“ nicht gerade zurück, wenn er schreibt: „in Tradition von Janne Tellers ‚Nichts‘“. Große Fußstapfen für ein anderes Buch.

Inhalt:

Benjamin geht auf die Schule, die sein Vater leitet, und ein ganz normal beginnender Schultag wird bald zu einem Albtraum. Von der Schulleitung werden alle Schüler – es tauchen bei der Schulversammlung fremde Männer in schwarzen Anzügen auf – aufgefordert, nach Unterrichtsschluss auf dem Schulgelände zu bleiben. Keiner weiß so recht, warum diese Maßnahme getroffen wurde und wie lange sie dauern soll. Jedenfalls sind die Schüler und Lehrer auch am nächsten Tag noch nicht zu Hause.

Als um die Schule herum ein Zaun gebaut wird, wird es ernst. Inzwischen ahnt man, dass die Quarantäne etwas mit einer Epidemie zu tun hat, die bei den Menschen umgeht. Benjamins Vater bemüht sich, bei Schülern wie Lehrern für Ruhe zu sorgen und meint, dass alles bald vorbei sei – Benjamin gegenüber gibt er aber zu, dass er auch nicht wisse, wie es weitergehe.

Die Epidemie grassiert bald auch unter den Schülern. Der Krankheitsverlauf ist immer gleich: Die Erkrankten haben Striemen am Hals, bekommen Fieber, können kein Essen und Trinken behalten und vor dem Endstadium meinen sie, es geht ihnen besser, doch dann brechen sie zusammen und sterben. Schon bald kommt es zu den ersten Toten, die auf dem Schulgelände begraben werden, zugleich gibt es erste Schüler, die Panik bekommen und über den Zaun fliehen wollen. Doch die fliehenden Personen werden ohne Warnung von einer bewaffneten Drohne abgeschossen …

Bewertung:

Eigentlich beginnt die Geschichte in „Opfer“ (Übersetzung: Friederike Buchinger) recht harmlos damit, dass die Schüler das Schulgebäude aufgrund einer nicht benannten Gefährdungslage nicht verlassen sollen, und zuerst musste ich an einen Amoklauf denken. Doch irgendwann ist klar: Es geht um eine Quarantäne, darum, dass sich eine Seuche nicht ausbreiten soll, und hierfür wird eine ganze Schule kaserniert und von der Außenwelt isoliert.

Was einen an Jesper Wung-Sungs Roman irritiert, ist bald klar: Er liefert keine Erläuterungen dafür, was genau hier passiert, und genauso wie die Lehrkräfte und die Schüler/innen wird man verstört zurückgelassen. Man bleibt auch als Leser innerhalb des Drahtzauns des Schulgeländes und wird wie die Schüler und Lehrkräfte über nichts informiert. Der Trick, wie in „Opfer“ die Verstörung aufgebaut wird, ist leicht zu durchschauen, und trotzdem entfaltet er seine Wirkung.

Es sind noch mehr Dinge, die „Opfer“ zu einem unbehaglichen Buch machen: So werden die Figuren alle recht schematisch und undurchschaubar dargestellt und bekommen nicht wirklich Leben eingehaucht. Auch in Benjamins Seele kann man nicht so richtig hineinschauen, für eine Hauptfigur, aus deren Sicht die Geschichte personal erzählt wird, bleibt er ziemlich konturlos. Hinzu kommt, dass die Gruppendynamik zwischen den Eingesperrten immer heftiger wird, je länger die Quarantäne dauert, weil die Nerven aller zunehmend blankliegen. Was man aus anderen Büchern ähnlicher Art kennt, passiert auch hier: Es bilden sich Gruppen, die sich irgendwann zu bekriegen anfangen …

Was den Vergleich mit Janne Tellers „Nichts“ angeht, den der Hanser-Verlag in seinen Texten über das Buch anführt: Ich habe das zunächst einmal als Marketing-Strategie abgetan – doch ich muss zugeben, dass der Vergleich in einigem passt. Janne Tellers Welt der Jugendlichen in „Nichts“ ist gnadenlos, ein Stück weit nihilistisch, und das ist in „Opfer“ in vielem ähnlich. Zwischenmenschliche Wärme gibt es nur an wenigen Stellen, ansonsten regiert die Hoffnungslosigkeit – man schenkt sich nichts, und niemand ist gefeit davor, als Nächster zu sterben. Lernfähig erscheinen die Jugendlichen darüber hinaus in beiden Büchern nicht; nein, sie sind getrieben von etwas in ihnen innen drin, das sie selbst nicht verstehen.

Bleibt die Frage, was dieses Buch dem Leser eigentlich sagen will – und auch hier geht es mir ähnlich wie bei „Nichts“: Ich weiß es nicht so recht – zumal am Ende des Buchs Dinge passieren, die klar machen, dass hier nicht einfach durchgespielt wird, wie sich eine Quarantäne wirklich auf Jugendliche auswirken würde. Die zwei Lager, die sich gegen Ende bei den Jugendlichen bilden, sind zu skurril, um als Gedankenspiel der Wirklichkeit durchgehen zu können. Aber was ist „Opfer“ dann? Wohl eher ein in eine Geschichte gegossener Blick auf die dunklen Stellen der menschlichen Seele; eher eine Parabel als ein Buch, das eine mögliche Krisensituation, wie sie heute passieren könnte, möglichst realitätsnah darzustellen versucht.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Radikal ist Jesper Wung-Sungs „Opfer“ in jedem Fall. Trost und Hoffnung findet man in diesem Buch so gut wie nicht – hier passieren Dinge, für die es keine Erklärungen gibt, es passieren Grausamkeiten, die verstörend sind, die Menschen in dem Roman sind auf sich selbst gestellt und kommen damit gar nicht zurecht. Heftig ist das alles, sofern man es an sich rankommen lässt. Allerdings macht es einem der Roman auch leicht, die Story von sich fernzuhalten, weil sie sehr distanziert erzählt wird.

So richtig neu ist diese Art von Roman nicht. Es gibt ähnliche Bücher, in denen Jugendliche in Grenzsituationen irgendwann aufeinander losgehen, es gibt ähnliche Bücher, in denen für die Schrecken, die geschehen, keine Erklärungen gegeben werden. Aber Jesper Wung-Sung hat seine Geschichte dicht erzählt, denn die Sprache spiegelt sehr gekonnt die Gefühllosigkeit der Geschehnisse wider. Ein stimmiges Buch ist „Opfer“ damit. Und trotz der Irritationen, die das Buch zurücklässt, kann man es durchaus empfehlen.

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(Ulf Cronenberg, 14.03.2016)

P. S.: Noch ein Lob an den Hanser-Verlag: Mir hat die wagemutige Typografie des Buchs sehr gut gefallen. Ja, man muss Seiten nicht immer nach dem Schema F füllen …

Lektüretipp für Lehrer!

Ein bisschen Mut muss man mitbringen, will man „Opfer“ im Deutsch- oder Ethikunterricht als Lektüre verwenden. Es könnte passieren, dass Eltern gegen eine solche Lektüre Einwände haben. Und dennoch: Es sind gerade solche radikalen und dunklen Jugendbücher, mit denen sich besonders nachhaltig über Werte und Fragen in Bezug auf das menschliche Zusammenleben diskutieren lässt. Diskussionsstoff liefert Jesper Wung-Sungs „Opfer“ jedenfalls zur Genüge – und das ist ja immerhin schon mal was … In der 9. Jahrgangsstufe sollten Schülerinnen und Schüler meiner Meinung nach allerdings mindestens sein, damit man dieses Jugendbuch mit ihnen lesen kann.

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