(Carlsen-Verlag 2016, 347 Seiten)
Anne-Laure Bondoux‘ Debütroman „Die Zeit der Wunder“, der gleich für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war, ist angesichts der Flüchtlingswelle ein noch aktuelleres Buch, als es das 2011 beim Erscheinen war. Der zweite Roman der Französin („Der Mörder weinte“) kam deutlich sperriger daher, war aber meiner Meinung nach durchaus faszinierend, und seine düstere Stimmung kommt sofort in mir auf, wenn ich daran denke. „Von Schatten und Licht“ hat mit dem Scherenschnitt nicht unbedingt ein modisches Cover – erst nach dem Lesen weiß man, dass das Cover die Geschichte sehr gekonnt zusammenfasst.
Inhalt:
Bo fängt in einer Stahlfabrik zu arbeiten an und verliebt sich auf den ersten Blick in Hama, die in der Schicht vor ihm arbeitet. Hama ihrerseits erwidert Bos Gefühle, und bald sind die beiden ein Paar. Beide sehnen die Wochenenden herbei, denn unter der Woche können sie sich aufgrund der Schichtzeiten nur bei der Übergabe sehen. Leicht ist das Leben in der Stadt, in der sie leben, nicht. Die Arbeit ist hart, die Menschen sind meist abweisend und misstrauisch, und Zerstreuung gibt es erst seit Kurzem in einem wiedereröffneten Varieté, in dem Kleinkunststücke aufgeführt werden. Bo sucht dort immer wieder Trost.
Doch dann passiert ein schlimmes Unglück: In der Stahlfabrik kommt es zu einer großen Explosion, bei der viele Menschen sterben. Eigentlich hätte Bo Hama längst ablösen müssen, doch ausgerechnet an diesem Tag verschläft Bo, so dass Hama an seiner statt noch in der Fabrik ist. Nach der Explosion, bei der auch viele Häuser der Stadt beschädigt werden, rennt Bo panisch zur Fabrik und hat wenig Hoffnung, dass Hama noch lebt. Doch auf einer Bahre entdeckt er sie.
Hama liegt lange im Koma, und als sie erwacht, ist sie zunächst glücklich, weil sie am Leben ist, doch als sie erfährt, dass ihr beide Hände durch die Explosion abgerissen wurden, ist sie entsetzt und will nicht mehr weiterleben. Bo kümmert sich geduldig um sie, so dass sie wieder zueinander finden.
Allerdings gibt es bald andere Probleme. Die Menschen in der Stadt suchen einen Sündenbock für die Explosion und finden ihn in Bo, weil angeblich alles schiefläuft, seit er in die Stadt gekommen ist. So müssen Bo und Hama schließlich aus der Stadt fliehen. Eine lange Reise mit ungewöhnlichen Erfahrungen steht ihnen bevor.
Bewertung:
Ein bedrückendes Szenario entfaltet Anne-Laure Bondoux im ersten Teil des Buchs: Die nicht benannte Stadt (ich musste immer an eine italienische Stadt in der Glanzzeit der Industrie denken) ist ein düsteres Pflaster – bestimmt von dem harten Leben im Stahlwerk, mit Menschen ohne einen Funken Licht im Leben und mit einer unterschwelligen aggressiven Stimmung, die jederzeit umzuschlagen droht. Die Liebe zwischen Bo und Hama ist hier ein Kontrapunkt zu den Schatten, die über der Stadt liegen – doch von Anfang an spürt man als Leser, dass auch die Liebe zwischen den beiden gefährdet ist.
„Von Schatten und Licht“ (Überwetzung: Maja von Vogel) ist ein in vielem dunkles Buch – Anne-Laure Bondoux‘ neuer Roman zeigt hier seine Verwandtschaft mit „Der Mörder weinte“. Zugleich ist es ein Buch, das sich immer wieder wandelt. Erzählt das erste Kapitel manches fast ein bisschen in der Atmosphöre des Steam Punks, so wird die Geschichte im zweiten Kapitel märchenhaft. Bo und Hama treffen auf 19 zwergenhafte Geschwister, die in einem seltsamen Bau mit vielen Stockwerken unter der Erde leben. Hier kommt auch – Hama war vor dem Unfall schwanger, ohne dass Bo es wusste – Tsell, die Tochter der beiden, auf die Welt. Es sind nicht nur die zwergenhaften Figuren, die hier an ein Märchen erinnern, sondern es ist auch Tsell, die fabelhafte Wesenszüge hat.
Das ist nicht der letzte Wandel, den das Buch beschreibt. Denn Bo, Hama und Tsell verlassen nach einigen Jahren die Zwerge und siedeln sich am Meer in einer verlassenen Gegend an, wo Tsell dann – ähnlich wie damals Bo Hama – ihrer großen Liebe begegnet. Auch hier gibt es wieder einen Kontrapunkt zur Liebe zwischen Tsell und Vigg – immer geht es um Schatten und Licht: Hama und Bo kommen gar nicht mehr miteinander zurecht und machen sich das Leben schwer, ja, man könnte sagen zur Hölle.
So entrückt (man könnte fast auch „verrückt“ sagen) die Geschichte ist, so seltsam wird sie auch erzählt. Im ersten Kapitel gibt es einen Wir-Erzähler, der sich einer genauen Identifikation entzieht – am ehesten wohl kann er als Kollektiv der in der Stadt lebenden Menschen beschrieben werden (das war zumindest meine Interpretation). Später übernimmt das Erzählen dann Tsell … Aus all dem – den vielen Wandlungen in der Geschichte wie ihres Erzählstils – ergibt sich eine seltsame Mischung, die einen verwirrt und fasziniert zugleich.
Ja, wovon handelt dieses Buch eigentlich? Will es nur sagen, dass das Leben Licht und Schatten kennt? Aber warum dann diese sprunghafte Erzählweise, die einem Rätsel aufgibt, deren genauer Sinn sich zumindest mir nicht erschließt? Man erahnt mehr, ohne es so richtig fassen zu können. „Von Schatten und Licht“ ist kein Buch, bei dem ich am Ende das Gefühl hatte, es so richtig ergründet zu haben. Mir blieben viele Fragen, aber zugleich ist es Anne-Laure Bondoux gelungen, ein ganz eigenwilliges wie eigensinniges Buch zu schreiben, das beim Lesen atmosphärisch dicht seltsame Stimmungen erzeugt.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Einfach macht es einem „Von Schatten und Licht“ nicht: Die insgesamt doch eher düstere, manchmal gar trostlos-bedrohliche Stimmung muss man aushalten, auch wenn es in dem Buch ebenso Lichtmomente gibt. Bo und Hama zum Beispiel lieben sich bedingungslos, tun sich dann aber wieder grenzenlos weh und kommen nicht zusammen. Ebenso muss man sich damit anfreunden können, dass Anne-Laure Bondoux einen Roman geschrieben hat, der sich den Genres entzieht: ein bisschen Märchen, ein bisschen Dystopie, ein bisschen Industrieroman … Was aus all dem entstanden ist, ist eine mitunter faszinierende Stilmischung, die einen aber auch verwirren kann – vor allem, weil man am Ende nicht so genau sagen kann, um was es der Autorin mit der Geschichte geht.
Es ist dementsprechend schwer zu sagen, wem man dieses Buch eigentlich empfehlen kann. Irgendwie ist das kein richtiger Jugendroman, aber auch nicht eindeutig ein Erwachsenenroman. Am ehesten dürften sich an dem Buch wohl Leser erfreuen, die Märchenhaftes mögen, denn die Düsternis der Geschichte kommt einem zum Beispiel aus einigen der Grimmschen Märchen bekannt vor. Wer sich mal an etwas anderes wagen will, wer mutig genug ist, ausgetrampelte Jugendbuchpfade zu verlassen, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt. Belohnt wird man mit einem Buch, das einem lange nachgeht, weil es irgendwas Archaisches in einem anstößt.
(Ulf Cronenberg, 08.03.2016)
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