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Buchbesprechung: Jan De Leeuw „Eisvogelsommer“

Cover: Jan de Leeuw "Eisvogelsommer"Lesealter 14+(Gerstenberg-Verlag 2016, 250 Seiten)

Zwei Bücher habe ich bisher von Jan de Leeuw gelesen: Das heiter-ernst-makabere „Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus“ und die Wikinger-Geschichte „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“. Beide Jugendromane des Belgiers haben mir, auch wenn sie völlig unterschiedlich sind, gut gefallen. Lange hat es gedauert, bis von Jan de Leeuw, der hauptberuflich Psychologe ist, ein neues Buch erschienen ist. Und um eins vorwegzunehmen: „Eisvogelsommer“ erzählt wiederum eine ganz andere Geschichte …

Inhalt:

Thomas ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, doch so richtig aus der Welt verschwunden ist er anscheinend nicht. Wie eine Art Geist folgt er noch immer den Menschen, denen er nahestand – und es scheint fast so, als könnten einige dieser Menschen ihn erahnen und wahrnehmen. Thomas bekommt so mit, wie es seinen Eltern, seinem Großvater und insbesondere auch seiner großen Liebe Orphee geht.

Thomas‘ Mutter jedenfalls kann ihren Sohn nicht loslassen und versucht sein Zimmer wie einen heiligen Tempel unversehrt aufzubewahren. Sein Vater ist davon zunehmend genervt; er versteht seine Frau nicht mehr, die irgendwann beschließt, dass sie sich von ihrem Mann trennen will. Und so zieht sie schließlich aus und nimmt auch Thomas‘ Sachen mit, um sein Zimmer originalgetreu in ihrer neuen Wohnung wieder aufzubauen.

Orphee geht es ebenfalls sehr schlecht. Sie hatte sich anfangs schwer getan, sich auf Thomas einzulassen, weil sie eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte, und nun hat Thomas sie, wenn auch ohne eigene Schuld, zurückgelassen – es ist also das eingetreten, wovor sie sich immer gefürchtet hat: wieder enttäuscht zu werden. Thomas bekommt mit, wie Orphee ganz und gar nicht mit seinem Tod zurechtkommt, wie sie verzweifelt ist.

Bewertung:

Ein ungewöhnliches Szenario entfaltet Jan de Leeuw da in seinem neuen Roman „Eisvogelsommer“ (Übersetzung: Rolf Erdorf): Ein Toter als Erzähler, der als seelenhafter Schemen die Menschen begleitet, die ihm wichtig waren – da wird nun wirklich keine alltägliche Geschichte erzählt. Während man erst recht spät im Buch erfährt, wie Thomas ums Leben gekommen ist, so begreift man jedoch nach recht kurzer Zeit, dass der Erzähler gestorben sein muss.

Aus Thomas‘ Sicht folgt man vor allem vier Personen: seinen Eltern, Orphee, seiner Freundin, sowie seinem Großvater, um den sich Thomas viel gekümmert hat. All diese Figuren sind Menschen, die es nicht immer leicht hatten und haben – nicht nur weil Thomas gestorben ist. Orphee hat überbehütende Eltern und wurde von ihrem früheren Freund groß enttäuscht. Der Großvater musste schon bald Thomas‘ Mutter alleine großziehen, weil seine Frau Selbstmord begangen hat – und darüber ist er letztendlich nie so richtig hinweg gekommen. Und Thomas‘ Mutter trägt seit ihrer Jugendzeit einen großen Groll gegen ihrer Vater mit sich herum und will nichts mit ihm zu tun haben – weil dieser ihr vorenthalten hat, wie ihre Mutter gestorben ist. „Eisvogelsommer“ erzählt also indirekt auch eine Familietragödie.

Thomas schaut, während er den Figuren folgt, immer wieder auch auf seine gemeinsame Zeit mit diesen Personen zurück – das gilt insbesondere für Orphee. So erfährt man, wie Thomas und Orphee sich kennengelernt haben, wie schwierig ihr Beziehungsbeginn war, wie sich dann aber dennoch eine sehr intensive Liebesbeziehung entwickelt hat. Allerdings gibt es in dem Buch einige Seiten, wo Thomas schon sehr schmalzig und rührselig von seinen Treffen mit Orphee berichtet. Das war mir um einiges zu dick aufgetragen – ich habe mich fast in einen Groschenroman versetzt gefühlt. Puh.

Eingestreut sind in das Buch immer wieder märchenhafte Geschichten. Sie stammen vor allem von Thomas‘ Großvater, der ein großer und ausschweifender Geschichtenerzähler ist – fast im Sinne von Max Frisch: dass man die Wirklichkeit am besten durch Geschichten erfassen kann. Zugleich hatten Geschichten bei ihm jedoch auch die Funktion, schmerzliche Erlebnisse auf Distanz zu halten. Und auch Thomas mit seinem heimlichen Berufswunsch Schriftsteller erzählt Orphee immer wieder Geschichten. Das Motiv des Eisvogels spielt dabei eine besondere Rolle. Reizende wie bizarre Geschichten sind das, und sie legen über das, was in dem Buch passiert, eine zweite metaphorische Ebene.

So faszinierend vieles an „Eisvogelsommer“ ist, so gibt es doch noch etwas, was mich gestört hat: Thomas als Erzähler tritt in dem Buch mehrmals so weit zurück, dass man phasenweise vergisst, wer hier der Erzähler ist. Während er mit Orphee und seinem Großvater oft fast in eine Art Zwiegespräch tritt und damit präsent bleibt, sind es vor allem seine Eltern, deren weiteren Lebensweg er unkommentiert schildert. Man mag dahinter Absicht vermuten – aber warum Thomas bei seinen Eltern eher Beobachter ist, während er sich mit Orphee und seinem Großvater im Geiste intensiv auseinandersetzt, hat sich mir nicht so richtig erschlossen. Und es wirkt erzählerisch inkonsequent, wenn das Buch in einen personalen Erzählstil abdriftet und man über viele Seiten hinweg gar nicht mehr wahrnimmt, dass das Buch eigentlich aus Thomas‘ Perspektive erzählt wird.

Fazit:

3-einhalb von 5 Punkten. „Eisvogelsommer“ ist ein sperriges Buch – was ich an sich nicht als negativ, sondern oft sogar als reizvoll empfinde. Ja, es ist einiges sperrig. Ein Erzähler, der eigentlich nicht mehr lebt, sondern als Seele oder Erinnerung in dem Buch präsent ist; die Figuren mit ihre Ecken und Kanten; die märchenhaften Geschichten, die Thomas und sein Großvater erfinden – all das ist hier vor allem zu nennen. Irritiert hat mich dagegen vor allem der übertriebene Ausflug in die Gefühlswelt von Orphee und Thomas – war anfangs ihre Beziehung recht differenziert dargestellt, gleitet ihre Darstellung später ab und zu ins Klischeehafte ab.

Jan de Leeuws Jugendroman ist eigen, er ist streitbar. Während ich von den anderen beiden Büchern Jan de Leeuws – beides durchaus auch eigenwillige Bücher – ziemlich angetan war, bin ich bei „Eisvogelsommer“ deutlich verhaltener. Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass diese grandiose Idee mit dem Erzähler, der nicht mehr unter den Lebenden weilt, noch ein bisschen Reifung und Feinschliff nötig gehabt hätte. Nichtsdestotrotz: „Eisvogelsommer“ zeigt, wie verschiedene Menschen ganz unterschiedlich mit dem Tod einer geliebten Person umzugehen versuchen, und ist somit ein Buch über Trauer, das einem zum Nachdenken anregt.

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(Ulf Cronenberg, 16.02.2016)

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