(dtv 2015, 252 Seiten)
„Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren“, der erste Jugendroman der Kanadierin Sarah N. Harvey, war ein ernstes wie humorvolles Buch – ein großartiger Roman über einen dement werdenden Großvater, der von seinem Enkel anfangs wider Willen gepflegt wird. Nun liegt mit „Drei kleine Wörter“ das zweite Jugendbuch von Harvey vor – im Vergleich zu „Arthur“ nicht unbedingt ein Blickfang, auch wenn das Cover gut zur Geschichte passt. Da musste mir auch erst mal jemand sagen, dass das ein tolles Buch ist, bevor ich es zu lesen angefangen habe …
Inhalt:
Sid wächst, seit er zwei Jahre alt ist, bei seinen Pflegeeltern Megan und Caleb auf einer kleinen Insel an der kanadischen Küste auf – seine Mutter hatte ihn in dem Alter ausgesetzt, seitdem hat er weder etwas von ihr gehört noch sie gesehen. Megan und Caleb sind letztendlich Sids Eltern, auch wenn er sie beim Vornamen nennt, und immer wieder haben die beiden andere Kinder aufgenommen, die jedoch alle nach einigen Jahren die Pflegefamilie wieder verlassen haben.
Vor Kurzem ist Fariza, ein verängstigtes kleines Mädchen, zur Familie hinzugekommen – Fariza hat Schlimmes erlebt (was genau, weiß Sid nicht) und sagt nur zwei Wörter: „bitte“ und „danke“. Auch Sid ist eher ein wortkarger Mensch, der jedoch für sein Leben gerne Comics zeichnet. Zu Fariza bekommt er irgendwann eine Beziehung, weil er mit ihr gemeinsam zu zeichnen beginnt.
Sids beschauliches Leben wird durcheinander gebracht, als eines Tages ein Mann namens Phil auftaucht, der Sid um Hilfe bittet. Sid erfährt, dass er einen nicht viel jüngeren Halbbruder namens Wain hat, der spurlos – ebenso wie Devi, die Mutter von Sid und Wain – verschwunden ist. Phil glaubt, dass Sid helfen kann, die beiden zu finden.
Sid ist ziemlich durcheinander, denn er will eigentlich nichts mit seiner leiblichen Mutter zu tun haben. Und dass er einen Halbbruder hat, davon ist er auch geschockt. Nach längerem Überlegen willigt er jedoch ein, mit Phil zu kommen und ihn bei der Suche nach Wain zu unterstützen … Und so lernt er dann auch seinen Großmutter Elizabeth, eine sympathische Frau, kennen …
Bewertung:
Bücher, die personal (also in Er-Form aus der Sicht einer Figur) und im Präsens erzählt werden, finde ich immer etwas gewöhnungsbedürftig. Sie haben einen ganz eigenen Ton, eine seltsame Mischung aus Distanz einerseits (durch die personale Erzählhaltung) und Nähe andererseits (durch die Gegenwartsform) – bei „Drei kleine Wörter“ (Übersetzung: Ulli und Herbert Günther), das auf diese Weise geschrieben ist, ging es mir auch so. Doch je länger ich in dem Jugendroman gelesen habe, umso faszinierender und passender fand ich diese Erzählweise – weil das Buch dadurch nicht weichgespült wird, sondern erzählerische Ecken und Kanten besitzt, die zur Handlung und zu den Figuren passen.
„Drei kleine Wörter“ erzählt eine ganz besondere Geschichte. Sid, die Hauptfigur, ist ein stiller, aber sympathischer Junge, von dem seine Pflegeeltern erst spät im Buch berichten, wie unausgeglichen er war, als er mit zwei Jahren zu ihnen gekommen war. Durch die liebevolle Pflege von Megan und Caleb ist er jedoch seinen Weg gegangen, und über das Zeichnen hat er anscheinend sein Ventil gefunden, negative Gefühle zuzulassen, ohne sie bei anderen abzuladen. Sid hat sich in seiner beschaulichen Welt eingerichtet.
Megan und Caleb, das wird schnell klar, sind herzensgute Menschen, die genau wissen, wie man Kindern helfen kann: mit liebevoller Zuwendung, aber auch Klarheit. Wie vor allem Megan mit Fariza, die wirklich Schlimmes erlebt hat, umgeht, ist bewundernswert. Auch Sid wird von Megan und Caleb ernst genommen und wie ein eigener Sohn behandelt – gerade auch, als Wain und beider Mutter plötzlich in sein Leben treten und er sich entscheiden muss, ob er mit auf die Suche nach ihnen geht.
Überhaupt sind es die Figuren, die das Buch bereichern: Wain, der dann später auftaucht, ist hochexplosiv, was aber auch plausibel ist – ein verletzter Junge, der mit seiner manisch-depressiven Mutter viel mitmachen musste. Elizabeth, Sids Großmutter, ist eine lebensmutige alte Frau, die auch die Schattenseiten des Lebens kennt. Und Chloë, Sids beste Freundin, ist eine selbstbewusste Quasselstrippe, die Sid aber in vielem eine wichtige Stütze ist. All die Figuren wachsen einem als Leser ans Herz.
Was mich an Sarah N. Harveys Jugendroman beeindruckt hat, war die Behutsamkeit, mit der die Autorin alles erzählt. Da wird nichts zugekleistert – Konflikte und widerstrebende Gefühle kommen auf den Tisch (das ist auch Megans und Calebs Erziehungshaltung), aber sie werden immer mit Bedacht und Vorsicht behandelt. Und mit dem hier und da manchmal fast etwas unbeholfen wirkenden Ton, den die Autorin anschlägt, kommt sie der Figur Sids sehr nahe.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Drei kleine Wörter“ ist ein Kleinod, ein tolles Buch, das davon erzählt, wie Kinder, die einen beschwerlichen Lebensweg hatten, auf eine gute Spur gebracht werden. Sarah N. Harvey nähert sich diesem Thema mit großer Liebenswürdigkeit, sie schafft Figuren und Räume, die in einem nachhallen, die einen nicht loslassen; und man lernt ohne Brechstange viel beim Lesen – vor allem, was es heißt, Kindern und Jugendlichen, deren Seele beschädigt ist, eine Heimat zu geben, Raum für die Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit.
Besonders gefallen hat mir, dass das Buch einen eigenen Ton hat – „Drei kleine Wörter“ erzählt gekonnt eine durchdachte Geschichte, hier passen Handlung, Figuren und Erzählweise zusammen. Dass hier und da kleinere Ungereimtheiten zu finden sind (z. B. wenn in einem Satz die personale Sicht Sids unmotiviert zu der von Wain wechselt), dürfte niemanden stören … – man muss schon sehr genau lesen, um über solche Kleinigkeiten zu stolpern. Sarah N. Harvey hat ansonsten ein Mut machendes Buch geschrieben, das nicht nur etwas für Leser ab 12 oder 13 Jahren ist, sondern durchaus auch für Erwachsene.
(Ulf Cronenberg, 14.09.2015)
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