Mit „Frerk, du Zwerg!“ hatten Finn-Ole Heinrich und seine Illustrationspartnerin Rán Flygenring einen fulminanten Einstand im Bereich des Kinderbuchs: Das Buch wurde im Jahr 2012 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Das Gespann aus Texter und Illustratorin ist geblieben: Die Maulina-Trilogie (hier die Buchbesprechungen zu Band 1, Band 2 und Band 3) ist abgeschlossen und hat – zu Recht – einige Preise eingeheimst, darunter den Luchs des Jahres 2014 von Radio Bremen und der Wochenzeitung Die Zeit.
Über einen längeren Zeitraum hinweg konnte ich mit Finn-Ole Heinrich per Mail ein Interview führen.
Ulf Cronenberg (ucg): Finn-Ole, kannst du dich noch daran erinnern, wann und wie die Idee zu den Maulina-Büchern entstanden ist?
Finn-Ole Heinrich: so mehr oder weniger, ja. das war allerdings nicht ein moment, sondern eher ein langer prozess. da war zum einen eine mich seit langer zeit juckende erinnerung aus meiner kindheit: auf meinem schulweg habe ich früher oft ein etwa gleichaltriges mädchen gesehen, das mit ihrer mutter auf deren e-rollstuhl die straße langfegte. ich hab mich immer gefragt, wie deren leben wohl so im detail aussieht, wie kompliziert, anstrengend, anders oder vielleicht auch ganz normal es wohl ist. und natürlich habe ich nicht zu fragen gewagt … und dann entstand aus einer spielerei mit meiner damaligen freundin die figur der maulina, die zunächst aber sehr viel kleiner und schemenhafter war. ein kleiner witz unter uns: ein mädchen, das die kunst des maulens zelebriert und lustvoll explodiert.
ich wollte schon ewig lange über dieses thema „wie geht man damit um, wenn man als kleiner mensch von so einem existenziellen verlust bedroht ist“ schreiben und habe nach der richtigen erzählstimme, -figur und -haltung gesucht. irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich mich dem stoff aus maulinas sicht nähern kann, dass sie diese geschichte erzählen und tragen kann. sie wurde dann allerdings schnell älter und hat deutlich an tiefe gewonnen. hat insgesamt sehr lange gedauert, bis sich all diese komponenten miteinander in meinem kopf verbunden hatten.
Rán Flygenring und Finn-Ole Heinrich, Frankfurt/Main, Oktober 2012
(Foto: Ulf Cronenberg, Würzburg)
ucg: Hat das alles nur in deinem Kopf stattgefunden oder gab es da viele Paten, mit denen du, bevor du mit dem Buch begonnen hast, gesprochen hast und die geholfen haben, dass die Idee gereift ist und ausgestaltet wurde?
Finn-Ole Heinrich: erstmal hat das nur in meinem kopf stattgefunden. allerdings ist die allererste maulina aus einer spielerei mit meiner damaligen freundin entstanden. wenn sie mit mir gemault hat, habe ich ihr geschichten von einem kleinen vor wut explodierenden mädchen, eben maulina, erzählt oder lieder gesungen. dann hat sie meistens gelacht und war wieder gnädiger mit mir. als ich dann wusste, dass ich maulina auf die komplizierten gedanken loslassen will und ihr diese große schwere geschichte zumuten werde, habe ich angefangen, die geschichte zu entwerfen, eine outline zu schreiben. und die habe ich dann jan (oberländer), meinem lektor, erzählt, als er mich in island besucht hat, als ich gerade die ersten entwürfe geschrieben habe. er war erst etwas skeptisch, ob das nicht zu viel sei, was da passiere – so viel drama, so viel story –, aber mit den ersten szenen war er dann gleich sehr einverstanden. weitere sparringspartner waren natürlich rán flygenring (die illustratorin der maulina-bücher), meine mutter und natalie tornai, die lektorin, die das ganze projekt für hanser betreut hat (und auch schon „frerk, du zwerg!“ bei bloomsbury gemacht hat), aber die kamen alle erst etwas später dazu, als der text schon form angenommen hatte.
grundsätzlich ist es auf jeden fall so, dass ein buch immer ein teamprodukt ist. auch wenn ich der bin, der die geschichte in sich selbst holen gegangen ist, der alle worte getippt hat, haben mir viele leute geholfen, ideen geschenkt, zeit mit mir verbracht, mit mir gelitten und sich gefreut, mich unterstützt und inspiriert. jan zum beispiel liest seit zwölf jahren mehr oder weniger jedes wort, das ich schreibe, und sagt mir, was er davon hält. das ist unglaublich wertvoll und wunderschön. schreiben kann ja ganz schön einsam sein. auch meine mutter ist da wirklich wichtig. sie operiert nie so nah am text, aber sie ist mir immer ein spannender begleiter in vielen themen, mit denen ich mich beschäftige.
ucg: Interessant finde ich, dass bei den Maulina-Büchern zuerst die Figur da war, zu der dann die Geschichte kam. Die drei Bände leben ja von beidem, und das macht sie zu etwas Besonderem – ganz abgesehen davon, dass als drittes Moment noch die genial-passenden Illustrationen von Rán Flygenring dazukommen. Kurzer Blick zurück: War das bei „Frerk, du Zwerg!“ auch so, dass es zuerst die Figur gab?
Finn-Ole Heinrich: ja und nein. ich hatte Frerk plötzlich im kopf, aber ich musste ihm keine geschichte finden, erfinden. er hat sie sozusagen mitgebracht und vor meinen augen erlebt. ich hab da eher protokolliert. ich wusste nicht, wo es hingeht. ich wusste nicht, was im ei ist und was die zwerge für typen sind. ich habe miterlebt und nicht entworfen.
ucg: Das heißt, wenn ich das richtig verstehe, dass bei „Frerk, du Zwerg!“ die Figur da war, die Geschichte sich dann beim Schreiben selbst eigendynamisch entfaltet hat. Das Buch ist also ganz anders als die Maulina-Bände entstanden …
Woher kommt eigentlich dein Drang, Ideen für Geschichten zu sammeln und sie dann erzählen zu wollen?
Finn-Ole Heinrich: ich halte das für meine irgendwann gewählte form der vorwiegenden lebensäußerung. wenn man es negativ sehen wollte, könnte man sicher sagen: selbstdarstellung, positiv: auseinandersetzungsfreude. in jedem fall: ein mitteilungsbedürfnis kann ich kaum leugnen.
ich sammle teile, momente, ideen, gedanken ein, mische sie mit erfahrungen, erinnerungen und gefühlen und verbaue sie zu szenarien und anordnungen, die mir in bestimmten bereichen des lebens klarheit bringen oder wenigstens anschaulich meine fragestellungen oder beobachtungen abbilden. wenn ich so zurückschaue, sind meine geschichten spiegelbild der themen, die mich begleitet haben. die geschichten sind dann immer das ergebnis meiner auseinandersetzung.
dieses dem-alltag-das-besondere-absammeln ist wie: von der milch den rahm abschöpfen und daraus sahne schlagen. mein versuch des umgangs mit dem, was mir die tage vor die füße spülen.
ucg: Das mit dem Rahm-abschöpfen und Sahne-schlagen ist ein schönes Bild, das mir gefällt. Mich interessiert da weiter: Wie bist du darauf gekommen, dass du dich so mit der Welt auseinandersetzt? Gab es da in deiner Familie Vorbilder? Im Freundes-/Bekanntenkreis? Oder bist du auf ganz anderem Wege dahin gelangt?
Finn-Ole Heinrich: nee, in meiner familie gibt’s keine schreiber. da bin ich alleine drauf gekommen. ich hab allerdings – wie meine mutter – immer viele briefe geschrieben, in denen ich meine ganzen fragen und ideen formuliert hab. ich hab diese briefe nur ganz selten auch abgeschickt, oft hatten die gar keinen richtigen empfänger, aber ich brauchte irgendwie diese brief-form, ein mehr oder weniger konkretes gegenüber. als ich dann – recht spät, mit 17 – angefangen habe, für mich selbst zu lesen, hab ich die literatur eigentlich erst als medium begriffen, als ort, an dem man sich mit seinem hirn und seinen fragen aufhalten kann. es ist dann sofort wichtig und zentral für mich geworden. hier konnte ich die ganzen sachen loswerden, parken, umsetzen, verarbeiten. seitdem schreibe ich eigentlich so gut wie jeden tag (das stimmt nicht so ganz, aber ich umkreise das schreiben jeden tag, beschäftige mich im kopf damit).
Doppelseite aus dem dritten Band von „Maulina“
(Foto: Ulf Cronenberg, Würzburg)
ucg: Was mich an deinen bisherigen Kinderbüchern so begeistert hat, ist deren sprachliche Kreativität. (Meine Lieblingsstelle ist übrigens der Gemüse-Obst-Brief im zweiten Band von Maulina.) Eigentlich erstaunlich, dass jemand, der erst mit 17 Jahren zum Leser geworden ist, so gewandt mit Sprache spielen kann. Hast du eine Idee, woher diese Kreativität kommt?
Finn-Ole Heinrich: mh, also: erstmal danke, das freut mich natürlich! woher das kommt, pffhh, keine ahnung. eigentlich finde ich es aber einigermaßen naheliegend und das soll jetzt nicht eingebildet klingen. was ich meine: wenn man das anders dreht, könnte man ja auch sagen, dass ich seit fünfzehn jahren viel, viel zeit, einen großen teil meines täglichen lebens mit dem schreiben von geschichten verbringe. wahrscheinlich ist es schlicht übung. hartes training. wenn ich mit siebzehn angefangen hätte, cello zu spielen, und so viel geübt hätte, wie ich geschrieben habe, dann würde ich heute vermutlich auch passabel cello spielen.
ucg: Na, seien wir froh, dass du damals nicht deine Leidenschaft fürs Cello, sondern fürs Schreiben entdeckt hast … Noch mal zurück zur Frage, warum du Bücher schreibst: Mag sein, dass du die Frage nach Botschaften, die du vermitteln willst, nicht so gerne magst – aber willst du deinen Lesern etwas mitgeben, sie auf etwas aufmerksam machen?
Finn-Ole Heinrich: mh, du hast schon recht, aber: botschaften – das klingt in meinen ohren gefährlich. ich mag die vorstellung nicht, meine geschichten zu instrumentalisieren. ich behaupte immer, ich wolle nur fragen stellen, mir selbst szenarien und figuren schaffen, um ihnen in bestimmten (oft brenzligen) lebenslagen über die schulter schauen zu können und selbst zu lernen, zu verstehen. aber du hast schon recht, bestimmt verbreite ich damit auch ansichten. allein dadurch, dass ich meine fundstücke, meine alltagssahne, meine ideen, einfälle und gefühle auf diese weise ausstelle, ihnen eine derartige bühne bereite, also auch eine auswahl treffe, zerre ich ja bestimmtes ins licht und anderes eben nicht. natürlich will ich dann genau auf diese dinge, die mir aufgefallen und/oder eingefallen sind, aufmerksam machen. mitgeben ist wieder so ein wort: es klingt so, als besäße ich etwas, das ich anderen zuteil werden lassen könnte. irgendwas sträubt sich dabei in mir. ich will nichts mitgeben, ich will – im besten falle – etwas auslösen, glaube ich: ideen, fragen, perspektivwechsel, wachheit, interesse. ich bin ein durchaus politisch denkender mensch, und gerade deshalb muss und will ich aufpassen, meine geschichten nicht zu benutzen. geschichten sind nicht dazu da, thesen oder ansichten zu belegen. sie sollen den kopf öffnen, zu diskursen und fragen anregen. irritieren, kratzen, kitzeln, ja, auch weh tun.
ucg: Kannst du dir vorstellen, dass das Schreiben irgendwann mal aus deinem Leben verschwinden wird und du dich anderem widmest? Vielleicht kennst du ja zumindest Tage oder Wochen, wo der Stift oder die Computertastatur mal gänzlich liegen bleiben …
Finn-Ole Heinrich: ja, das ziehe ich absolut ernsthaft in betracht. schreiben darf mir nicht zum selbstzweck werden, das ich tue, weil sich damit geld verdienen lässt.
aber ich werde wohl immer schreibend meine gedanken sortieren, das kann ich zumindest im moment nicht anders denken. das muss nicht mehr unbedingt zu geschichten, büchern, filmen führen, aber es wird wohl immer mein instrument bleiben, mit dem ich das chaos in meinem kopf kämme.
ucg: Du hast mir gegenüber erwähnt, dass du dich fragst, welche Bedeutung das Erzählen von Geschichten für uns hat: Verstehen wir uns dadurch selbst besser? Macht uns das menschlicher? Mich würde interessieren: Bist du bei diesen Fragen einer Antwort näher gekommen? Persönlicher formuliert könnte die Frage lauten: Hilft dir das Geschichtenerzählen denn dabei, dich und deine Mitmenschen besser zu verstehen?
Finn-Ole Heinrich: ja, ich habe schon das gefühl, dass das erzählen von geschichten mir dabei hilft, mich in der welt zurechtzufinden. ich kann mir auf diesem wege kleine, übersichtlichere anordnungen bauen und mir gefühle, szenarien, herausforderungen aus verschiedenen perspektiven ansehen. ich finde aber noch eine ganz andere seite erstaunlich: wir sind – zumindest nehme ich das jetzt mal an – die einzigen tiere auf diesem planeten, die geschichten erzählen. wir können dinge erfinden. bevor wir angefangen haben zu sprechen, hat es auf dieser welt nur dinge gegeben oder nicht gegeben. nur durch unsere vorstellungskraft und unsere sprache (und dieser zusammenhang ist auch sehr eng und interessant) haben wir eine ganze fiktive welt geschaffen, die eine unglaubliche dominanz entwickelt hat. geschichten sind wichtig und mächtig – und damit meine ich nicht nur die zwischen zwei buchdeckeln oder auf einer dvd, ich meine all den alltäglichen klatsch, ich meine legenden, mythen, gesetze, aktien, religionen oder nationalstaaten. all diese dinge gibt es ja nicht wirklich. sie existieren nur in unserem kopf. für kein anderes tier haben sie bedeutung. wir haben sie erfunden, wir glauben an diese geschichten. sie bestimmen unser denken und unser sein. wir führen kriege um die vormachtstellung von geschichten! gerade in den letzten wochen habe ich das wieder häufig gedacht, wenn ich die bilder aus syrien gesehen habe. der IS versucht, den bestehenden geschichten eine neue entgegenzusetzen. sie erfinden da unten eine neue, blutrünstige, radikale geschichte, und man kann dabei ja wirklich sehen, wie sie sich hier und da bedienen, mit welchen mitteln und aus welchen versatzstücken sie ihre geschichte erzählen und zusammensetzen. ich finde das faszinierend.
wenn man eine solche geschichte erfindet, geht es darum, andere menschen von der wahrheit dieser geschichte zu überzeugen. je nachdrücklicher einem das gelingt, je überzeugender man auftritt, desto größere chancen hat man, dass seine geschichte sich durchsetzt, geglaubt und gelebt wird. auch deshalb richtet der IS menschen vor laufender kamera hin. er statuiert exempel, um mit größtmöglichem nachdruck die glaubhaftigkeit der eigenen geschichte zu unterstreichen. und es scheint zu funktionieren. leute aus der ganzen welt strömen hin und wollen teil dieser geschichte sein. und solche vorgänge sind ja nichts neues. solche wechsel werden ja häufig vollzogen. eben glaubten wir noch an die monarchie, dann gab es eine revolution, plötzlich glauben wir an die macht des volkes.
ucg: Finn-Ole, ich danke dir ganz herzlich für die vielen Zeilen, die du auf meine Fragen hin geschrieben hast. Und ich bin gespannt auf dein nächstes Buch (vielleicht wieder mit Rán Flygenring?)!
Finn-Ole Heinrich: ich danke für die schönen fragen. Und mache mich auf in den wald. denn da spielt das nächste buch. und wieder wird rán mir den wald malen, ja.
ucg: Ich bin sehr gespannt, was im Wald alles passieren wird …
(Ulf Cronenberg, 27.02.2015)
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