(Fischer-Verlag 2014, 65 Seiten plus Nachworte)
Wenn ich es richtig verstanden habe, ist „Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis retete“ nicht nur die verkleinerte Neuauflage eines bereits 2012 im Verlag Schwarze Kunst herausgegebenen Buchs, das 2013 von der Stiftung Buchkunst als eines der »schönsten Bücher« 2013 ausgezeichnet wurde; sondern es handelt sich bei dem Text um einen Auszug aus dem bereits 1983 erschienenen autobiografischen Buch „Unter die Haut“ von Peggy Parnass. Darin verarbeitet die Autorin ihre schlimmen Erfahrungen als Kind während des Zweiten Weltkriegs.
Peggy Parnass’ Vater war der Pole Simon Pudl Parnass, ihre Mutter Hertha war Halbportugiesin, und beide wurden von den Nationalsozialisten im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Peggys Mutter setzte, weil sie ahnte, was kommen würde, ihre beiden Kinder, Peggy und ihren jüngeren Bruder Gady, im Buch nur Bübchen gennannt, in den Zug, und so kamen sie elternlos erst nach Schweden, wo sie getrennt für mehrere Jahre untergebracht wurden: Peggy Parnass in verschiedensten Pflegefamilien, ihr Bruder in einem Heim. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie schließlich zu einem Onkel nach England gebracht – dem einzigen Überlebenden der Familie.
„Kindheit“ erzählt vieles davon: episodisch und schlaglichtartig, und handelt vor allem davon, wie sehr Peggy Parnass ihre Mutter liebte, wie sehr sie später aber darunter litt, sie nicht mehr an ihrer Seite zu haben. Oft findet man Rückblicke auf die Zeit mit ihren Eltern, dann wieder Begebenheiten aus der Zeit in den Pflegefamilien – alles in kleinen Abschnittchen, viele nicht mal eine halbe Seite lang in recht großer Schrift, nur manche länger als eine Seite.
Ja, was soll man sagen? Man hat hier wirklich ein ganz besonderes Buch vor sich – unheimlich dicht sind die Texte, durchweht von Sehnsucht nach der Mutter und nach dem Leben vor der Flucht; klar benennend, was Peggy Parnass als Kind, das herumgeschubst wurde, alles durchgemacht hat. Was den Text so eindrücklich macht, ist, dass er ganz nah an den Gefühlen und Gedanken eines Kindes ist – eine Zeitreise Peggy Parnass’ in die eigene innere Vergangenheit:
„Mutti hat uns zur Bahn gebracht, Hamburger Hauptbahnhof. Seitdem hasse ich den Bahnhof noch mehr als andere Bahnhöfe. Ich kann auch keine Züge sehen, ohne dass mir schlecht wird. Mutti sagte, sie kommt in einem halben Jahr nach, aber das war natürlich Quatsch. Obwohl sie wusste, dass sie uns nie wiedersieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herrliches Lachen mit weit aufgerissenem Mund, und gewunken, solange wir sie sehen konnten. Damit uns der Abschied nicht so schwerfällt.
Hat auch nichts genützt. Ist nicht wahr. Hat es doch.“ (S. 43)
Hinzu kommen diese ganz eigenwilligen Holzfarbschnitte, deren komplizierte Entstehung in einem Nachwort beleuchtet wird. Peggy Parnass hat ihre Freundin, die in Hamburg in der gleichen Straße lebende Brasilianerin Tita do Rego Silva, gebeten, viel Gelb in die Schnitte zu bringen, und das ist die bestimmende Farbe der Illustrationen. Ist der Hintergrund mal nicht in Gelb- oder Orangetönen gehalten, sondern z. B. hellblau, so taucht das Gelb fast immer zumindest als Flächenfarbe auf. Die Illustration zum oben zitierten Textausschnitt sieht zum Beispiel so aus:
Abbildung aus: Peggy Parnass & Tita do Rego Silva „Kindheit“ (S. 42) – © Tita do Rego Silva – Verwendung der Illustration mit freundlicher Genehmigung des Fischer-Verlags (Sibylle Bachar)
Ja, die Illustrationen wirken irgendwie, als kämen sie von einem anderen Planeten (dabei haben sie ihre Wurzeln nur in einem fremden Kontinent) – wohltuend und bereichernd sind sie. Ein Kontrastprogramm, weil man solche Illustrationen noch nie in einem Buch über das Dritte Reich gesehen hat. Sie vermitteln Lebensfreude (bewusst von Peggy Parnass auch in den Lockenköpfen der Familienmitglieder gewünscht), aber zugleich auch die Schrecken dieser schlimmen Zeit, wenn z. B. die Pflegerin von Bübchen als zähnefletschender Fuchs in der Eingangstür stehend den Zutritt ins Heim verwehrt.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete“ ist ein Kleinod, ein Kunstwerk, sprachlich wie gestalterisch, zudem ein Text, der dem Leser unter die Haut geht. In der kindlich-naiven reduzierten Sprache, die Peggy Parnass verwendet, lassen sich, ohne dass vieles davon explizit genannt wird, Furcht und Schrecken des Dritten Reiches erahnen, und das ist fast schlimmer, als wäre hier alles bis ins Details ausgeführt. Die genaue Beschreibung der Schrecken, das haben bereits andere Bücher geleistet – hier wird minimalistisch die Kindersicht dargestellt, und das lässt einen nicht los. Dass mit Tita do Rego Silvas Farbholzschnitten entrückte Illustrationen, eigenwillige Interpretationen Einzug halten, die oft märchenhaft wirken, das verleiht dem Text eine zusätzliche Wirkung – mal ganz abgesehen davon, dass sie das Buch zum Kunstwerk erheben.
Ja, und für wen ist das nun ein Text? Ganz sicher für Erwachsene, aber länger habe ich überlegt, ab welchem Alter man den Text Kindern oder Jugendlichen zumuten kann. Meine Vermutung ist, dass Kinder die Grausamkeit zwischen den Zeilen sehr gut dechiffrieren können, sie nicht als harmlos erleben. Von daher würde ich das Buch nicht unbedingt 10-Jährigen alleine in die Hand geben. Und auch 11- oder 12-jährige Leser sollten vielleicht jemanden haben (sei es ein Lehrer in der Schule, seien es die Eltern zu Hause), der mit ihnen über das Buch spricht.
(Ulf Cronenberg, 02.02.2015)
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