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Buchbesprechung: Andreas Steinhöfel „Anders“

steinhoefel_andersLesealter 14+(Königskinder-Verlag 2014, 236 Seiten)

Fast drei Jahre ist es her, seit Andreas Steinhöfel mit dem letzten Band der Rico-Reihe sein letztes Buch veröffentlicht hat, und die Kinderbücher um Rico und Oskar waren wohl der bisherige Höhepunkte in Steinhöfels Karriere. Das neue Buch – wie die Rico-Bücher – von Peter Schössow sparsam illustriert, ist bei einem neuen Label des Carlsen-Verlags erschienen: Königskinder. Der Ableger bringt stilvoll gestaltete Kinder- und Jugendromane heraus, die in den Farben Weiß, Schwarz und Gold gehalten sind. Auch „Anders“ ist ein bibliophiles Schmuckstück.

Inhalt:

Der elfte Geburtstag ist ein Tag, an dem das Leben von Felix Winter auf den Kopf gestellt wird. Als er die Schule, weil ihm unwohl ist, frühzeitig verlässt, kommt er nach Hause, wo sein Vater gerade die Dekoration für das Geburtstagsfest am Haus anbringt: zwei große beleuchtete Einsen. Doch genau als Felix darunter steht, fällt eine der Ziffern herab und trifft ihn am Kopf. Doch nicht genug des Unglücks: Seine Mutter fährt in diesem Moment schwungvoll mit dem Auto in die Einfahrt und erfasst den Jungen, der gegen die Garagenmauer geschleudert wird.

Monatelang liegt Felix im Krankenhaus im Koma, und als er schließlich erwacht, ist alles anders. Felix kann sich nicht mehr an die Zeit vor dem Unfall erinnern – die Ärzte hoffen, dass er in der vertrauten Umgebung zu Hause seine Erinnerung zurückgewinnt. Als er schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wird, haben Felix’ Eltern das Gefühl, einen unbekannten Jungen vor sich zu haben, der sich seltsam verhält. Für sie wird es zur Belastungsprobe, als Felix darauf besteht, von nun an „Anders“ genannt zu werden.

Die Erinnerung stellt sich auch nach Wochen nicht ein, und Felix alias Anders benimmt sich weiterhin nicht so, wie Felix es vor dem Unfall getan hat. Am seltsamsten ist, dass Anders komische Bemerkungen über andere Menschen macht: Er sieht an ihnen Farben, die ihm etwas über seine Mitmenschen verraten und auf Gefühle und Krankheiten hinweisen, von denen niemand etwas weiß. Mehrmals äußert er sich dementsprechend anderen gegenüber und verschreckt damit seine Umgebung.

Seltsamerweise freundet er sich ausgerechnet mit den beiden Jungen an, die ihn früher auf dem Kieker hatten: Nisse und Ben. Nicht nur Felix’ Lehrerin sieht das mit Unbehagen …

Bewertung:

Ich muss gestehen, dass ich mich mit Andreas Steinhöfels neuem Roman schwer getan habe – das galt vor allem für die ersten 50 Seiten. Das Buch erzählt eine sonderbare Geschichte, und auch sprachlich findet man eher schwer in das Buch hinein. Man wird mit einigen Figuren konfrontiert, bei denen man etwas braucht, bis man sie in der Geschichte zuordnen kann, und dass Felix’ Eltern durchgängig Melanie (bzw. Melli) und André genannt werden, ist auch etwas sonderbar. Erst als Felix zu Anders wird und dessen neues Leben beschrieben wird, ging es mit der Geschichte leichter voran. War das Buch vorher irgendwie etwas fragmentarisch erzählt, so stellt sich nun ein Erzählfluss ein und die Geschichte wird weniger fahrig.

Ein ungewöhnlicher Erzähler, der seinen Fokus immer wieder auf verschiedene Figuren lenkt, tritt in „Anders“ auf: Der Erzähler kann in die Figuren hineinschauen, kursiv werden immer wieder Gedanken und Gefühle der Personen, die gerade im Zentrum stehen, beschrieben. Auch wenn man ab und zu in die Innenwelt der Figuren blickt, alles in allem wird man ihnen gegenüber als Leser eher auf Distanz gehalten. Immerhin: Während Anders für die meisten Personen seiner Umgebung ein Rätsel bleibt, nähert man sich ihm als Leser ein bisschen an und ahnt nach und nach, was in dem Jungen vorgeht.

Was mich in „Anders“ immer wieder irritiert hat, sind Stellen im Buch, in denen seltsam distanziert und allgemein beschrieben wird, was passiert:

In manchen Nächten kommt ein Junge aus der Stadt herauf. Meist beobachtet er nur, wie ein alter Mann ein einzelnes Huhn in den kleinen, hundezwingerartigen Verschlag bringt, wie später einzelne Lichter im Gehöft angehen und zuletzt wieder erlöschen. Aber manchmal zieht es den Jungen im Anschluss zur Wiese, wo er eine halbe Stunde steht oder länger, bewegungslos, ein undeutlicher Teil der Dunkelheit. (S. 104)

Ich habe mich immer wieder gefragt, warum Andreas Steinhöfel an bestimmten Stellen zu einer solchen distanzierenden Schreibweise wechselt, aber so richtig klar geworden bin ich mir darüber nicht. Dieser Stil erinnert natürlich an große literarische Vorbilder, aber mich haben diese Beschreibungen in dem Buch eher gestört, denn sie wirken auf mich oft recht gekünstelt. Dass diese Passagen manchmal auch Erheiterndes enthalten, sei erwähnt:

Ein Paar, schon über die mittleren Jahre hinaus, sie mit jener Sorte asymmetrischer Frisur verunstaltet, die ihr vor dreißig Jahren als kess oder flott oder frech verkauft worden war, zusammen mit dem Bewusstsein, dadurch ein gewisses anarchisches Potenzial erworben zu haben; er mit jener Sorte Bauch versehen, der gefährlich über den Hosenbund schwappt, aber von einem darunter hart gezurrten, unterm so entstandenen Mittkörperwulst nicht sichtbaren Gürtel gehalten wird, der seinem Besitzer eine ewige Bundweite 34 vorkaukelt. Plus Normalkörpergewicht. (S. 158)

Aber sind das Formulierungen und Gedanken, die Leser ab 12 Jahren (die Altersempfehlung auf der Webseite des Verlags) verstehen?

Die stärksten Stellen des Romans sind für mich die, in denen Anders seinem alten Nachhilfelehrer Stack begegnet und sich zwischen beiden eine Freundschaft entwickelt. Stack akzeptiert Anders so, wie er ist, und findet den Jungen interessant; hier treffen zwei Menschen aufeinander, die sich mögen, und da wird auch die distanzierte Art des Buchs mal ein wenig aufgebrochen. Spannend zu lesen ist auch, dass und wie Anders nach und nach mit seinem Vater besser zurechtkommt als vor dem Unfall, während seine Mutter ihn gar nicht mehr zu verstehen scheint.

Am Ende stellt sich heraus, dass „Anders“ unter anderem die Geschichte eines Traumas erzählt: Felix ist vor seinem Unfall in etwas hineingezogen worden (den Verdacht haben Anders‘ Vater und seine Lehrerin schon früher geäußert), das er gerne vergessen hat wollen. Das ist zwar ein plausibles Ende, aber zugleich nimmt Andreas Steinhöfel damit seiner Geschichte das Parabelhafte über das Anderssein. „Anders“ wäre faszinierender gewesen, wenn nicht letztendlich eine fast banal erscheinende Erklärung für die Andersartigkeit von Felix verantwortlich gemacht worden wäre.

Fazit:

3 von 5 Punkten. Es ist einerseits bewundernswert, dass Andreas Steinhöfel nicht einfach ein Erfolgsrezept wie die Rico-Bücher wieder neu auflegt, andererseits haben mir die lebensbejahend-humorvollen Bücher von Steinhöfel deutlich besser gefallen. Es gibt einiges, was mich in „Anders“ gestört hat. Wenn in dem Buch auf manche Menschen mit ihren Schwächen herabgeschaut wird (Felix’ Mutter und auch sonst manch anderer kommt nicht gerade gut weg), so wirken die halb liebenswert, halb sarkastischen Aussagen über die Figuren oft platt. Der distanzierte Ton, den das Buch außerdem immer wieder anschlägt, gefällt mir nicht so wirklich, weil er künstlich, ja fast verschwätzt, ab und zu pseudolebensweise daherkommt. Und das Nebeneinander von normalem Prosatext, Zeitungsberichten, Märchen- und Protokollauszügen bleibt ein seltsames Sammelsurium, das sich manchmal nicht wirklich ineinanderfügt.

Zugleich ist Felix alias Anders nichtsdestotrotz eine interessante Figur, und auch Felix‘ Vater und Stack haben mir gefallen. Die Grundstory des Buches hat darüber hinaus durchaus ihren Reiz – doch was den Stil des Buches angeht, ist es mir über weite Strecken fremd geblieben. Ich hätte mir entweder eine durchgängige parabel-/märchenhafte Geschichte mit passendem Ende oder eben die richtige Krankheitsgeschichte eines Jungen, dem übel mitgespielt wurde, gewünscht. Von beidem ein bisschen, das ist ein bisschen Fisch, ein bisschen Fleisch.

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(Ulf Cronenberg, 29.10.2014)

P. S.: Von mehreren (erwachsenen) Leserinnen (es waren nur Frauen) habe ich jetzt gehört, wie toll sie das Buch fanden. Das hat mich in meinem Urteil ein bisschen verunsichert … – aber vielleicht ist es ja gut, wenn jemand auch mal anderer Meinung über ein Buch ist.

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Kommentare (5)

  1. Cornelius

    Ich bin ein absoluter Steinhöfel-Fan und habe sogar die Schule geschwänzt, ganz schlimme Bauchschmerzen, um in aller Ruhe den dritten „Rico und Oskar“-Band zu hören, denn Steinhöfel ist ein toller Vorleser. Ich mochte auch „Dirk und ich“, „O Patria Mia“ oder „Beschützer der Diebe“ und demnächst will ich unbedingt „Die Mitte der Welt“ lesen. „Anders“, und hier muss ich Ihnen zustimmen, hat mich nicht überzeugt. Vielleicht war die Erwartungshaltung zu groß. Die Geschichte um den Jungen, der die Gelegenheit nutzt, um seinen Helikoptereltern zu entfliehen, zerfällt in zu viele Teile: die reale Erzählebene, die Märcheneinschübe, die übernatürlichen Fähigkeiten, den Krimi, die Freundschaftsgeschichte mit dem Nachhilfelehrer, den Neuanfang mit dem Vater und und und … – einfach keine Geschichte, die einen lang beschäftigt. Ja, und viele Passagen, andere würden sagen, das ist philosophisch, sind einfach nur plakativ und irgendwie, ja „distanziert“.
    Sorry, Andreas Steinhöfel, ich bin immer noch Fan, aber …

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  4. PinkFluffyUnicorn

    Ich habe auch das Buch ‚Anders‘ gelesen und ich liebe dieses Buch. Es ist total gut geschrieben, und da es aus verschiedenen Sichten geschrieben ist, macht es die Sache noch spannender. Dennoch verliert Andreas Steinhöfel nicht den roten Faden und am Ende klärt sich alles auf. Dieses Buch hat mich auch gefesselt, da es eine außergewöhnliche Geschichte ist, die mich sehr interessiert hat. Die anderen Bücher von Andreas Steinhöfel habe ich auch gelesen. ‚Anders‘ unterscheidet sich von den anderen Büchern und das mag ich.

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  5. Loveread0502

    Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Ich finde, dass man das Buch sehr gut verstehen kann. Es wirkt zwar an manchen Stellen sehr philosophisch, doch das passte meiner Meinung nach perfekt zu dem Charakter Anders‘. Wir haben das Buch in der Schule gelesen und ich finde diese nachdenkliche Seite von Andreas Steinhöfel sehr faszinierend und ebenso gut wie die Lustige.

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