(Hanser-Verlag 2014, 196 Seiten)
Ich weiß gar nicht, warum ich eigentlich das Lesen des zweiten Bandes von Finn-Ole Heinrichs und Rán Flygenrings „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“ so lange herausgezögert habe – das Buch ist schließlich schon Ende Februar erschienen … Nun habe ich mir Band 2, in dem die Geschichte der „großmauligen“ Paulina alias Maulina, deren Mutter ernsthaft krank ist, allerdings doch vorgenommen. Hübsch gemacht ist das Buch wieder allemal: Das frische Grün gefällt mir noch besser als das helle Blau von Band 1.
Inhalt:
Maulina ist noch immer sauer auf Juri, ihren Vater, auch wenn sie inzwischen verstanden hat, dass es Maulinas Mutter war, die sich von ihrem Mann getrennt hat und nach Plastikhausen – wie Maulina die praktische, aber nicht gerade schöne neue Wohnung nennt – gezogen ist. Immerhin sieht sie ihren Vater inzwischen ab und zu, weigert sich aber noch immer, mit ihm zu sprechen.
Maulinas Mutter, die MS (Multiple Sklerose) hat, geht es zunehmend schlechter. Die Tage, an denen sie eine etwas längere Strecke laufen kann, werden weniger, inzwischen gibt es eine polnische Haushaltshilfe namens Ludmilla, die Maulinas Mutter im Alltag hilft. Maulina greift die fortschreitende Krankheit ihrer Mutter ganz schön an, auch wenn beide versuchen, die Tage zu genießen, wie sie kommen.
Paul, Maulinas bester Freund, hat inzwischen auch ein Problem: Er muss in der Schule ein Referat über den Beruf seiner Eltern schreiben. Aber was will ein Junge, dessen Mutter abgehauen ist und dessen Vater im Gefängnis sitzt, da schon erzählen? Maulina hat eine Idee: Sie werden zwei Lebensläufe erfinden, und als Paul ihr ein selbstgemixtes Eis präsentiert, hat Maulina auch schon die passende Idee: Pauls Mutter führt in Amerika eine große Eiskette – von der Tellerwäscherin zur Konzernleiterin …
Doch es tut sich noch mehr: Maulina kapiert, dass Pauls Brause-Eis ein Renner werden könnte. Mit Maulinas Opa, dem General für Käse, der sich sogleich auch für die Idee entflammen kann, planen sie etwas Großes: Sie wollen Pauls Eis groß herausbringen …
Bewertung:
Mit Fortsetzungsbänden ist das immer so eine Sache – manche Bücher laufen sich tot und können beim zweiten Anlauf ihren Reiz nicht behaupten, andere werden noch besser. Band 2 von „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“ mit dem Untertitel „Warten auf Wunder“ gehört für mich ganz klar in die zweite Kategorie, auch wenn man meinen könnte, dass Band 1 kaum zu toppen war. Doch im Vergleich zu „Mein kaputtes Königreich“ scheint mir die Fortsetzung noch runder, noch tragikomischer auf vielen Ebenen.
Finn-Ole Heinrichs und Rán Flygenrings Maulina-Bände sind für mich keine Bücher, die ich einfach so runterlesen kann. In wohldosierten Häppchen habe ich mir auch Band 2 zugeführt – so zehn bis 25 Seiten am Stück. Und dabei bin ich aus dem Staunen oft nicht mehr rausgekommen. Dass die Geschichte an Traurigkeit zulegen wird, weil Maulinas Mutter eine fortschreitende Krankheit hat, war zu erwarten (in Band 3 wird das dann sicher noch mal auf die Spitze getrieben), aber wie das Autorenduo daraus ein trauriges wie unterhaltsames und witziges Buch gemacht hat, sucht seinesgleichen.
Die Geschichte wird in Episoden erzählt, immer wieder unterbrochen durch Briefchen, Zeichnungen, Kurzcomics – fulminant und erstaunlich. Eine wichtige Rolle spielt diesmal ein Zebra (siehe Buchcover), das Maulina aus der alten Heimat – in der ihr Vater nach wie vor lebt, „Mauldawien“ genannt – an sich nimmt. Wenn Maulina und ihr Vater schon nicht miteinander reden können, weil Maulina sich ihrem Vater verweigert, so tritt ersatzweise eben das Zebra in Kontakt mit dem Vater. Das Zebra und der Vater schreiben sich Briefe – und so nähern sich Maulina und ihr Vater doch langsam wieder an. Sauer bleibt Maulina trotzdem auf ihn, vor allem auch, weil er eine neue Freundin hat.
Was das Buch auch diesmal wieder zu einem besonderen Genuss macht, ist dessen sprachliche Verspieltheit. Finn-Ole Heinrich ist ein Tausendsassa der Wörter, ein Wortakrobat von höchstem Range, der fabuliert und mit Worten schnabuliert, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Höhepunkt ist ein Brief des Vaters an das Zebra, in dem der Vater mit Obst- und Gemüsevokabular das Zebra zu sich zurücklocken will.
„Ich flehe dich an: Pomelo, Pomeranze, Pampelmuse, es ist Maracuja! Du kannst nicht einfach gurken, das ist feige, fast schon dattel, es ist zum Mandeln und Melonen. Ich verspreche, ich werde für dich rüben, schoten und sprossen. Wir könnten lustig kirschen und rosinen, bis es legendär kartoffelt, du wirst es möhren, es wird dir gut rhabarbern, ich sage dir, du musst dich nur trauben. Und bald schon wird alles wieder ganz und gar Zucchini sein.“ (S. 83)
Muss man dazu noch etwas sagen?
Auch sonst stimmt bei diesem Bändchen, in dem es ja vor allem auch um Gefühle wie Wut und Ärger, Trauer und Enttäuschung geht, einfach alles. Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring schaffen es, der lebensfrohen, bisweilen zickig-eigensinnigen Maulina eine Stimme zu geben, die all diese Gefühle fasst. Als Maulina ihre Mutter z. B. das erste Mal im Rollstuhl sieht, heißt es: „(…) trotzdem sammeln sich Tränen auf meinen Unterlidern. Eine leise, flüssige Wut.“ (S. 80)
Für die vielen heiteren Momente des Buchs sorgen vor allem auch die Begebenheiten und Unternehmungen mit den anderen Figuren. Der Opa respektive General für Käse hat „Savoir vivre“ auf seinem Bauch tätowiert; Paul und Maulina erfinden die Lebensgeschichten von Pauls Eltern und sie werden Eisunternehmer; und Pauls Geburtstag, an dem sein Vater diesmal keinen Freigang bekommt, wird zu einem großen Ausflug, bei dem neben dem General für Käse auch Ludmilla und Maulinas Mutter (mit Rollstuhl) mit von der Partie sind. Auch hier wird wieder das Heitere mit dem Traurigem verbunden, wenn die Gruppe an den Ort reist, in dem Maulinas Eltern sich kennen gelernt haben.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ich ziehe noch einmal meinen Hut vor Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring und verbeuge mich noch ein wenig tiefer als bei Band 1. Der Startband war brillant, aber es gab ein paar Kleinigkeiten (die Comics, die etwas klischeehafte Herkunft von Paul), die mich leicht gestört haben – bei Band 2 blieben mir solch kleine Bedenken fern. Woran das liegt? Nun, die Figuren sind eingeführt, man liebt sie, sie entwickeln sich und neue Klischeefallen gibt es letztendlich nicht. Ludmilla als Heavy Metal hörende polnische Haushaltshilfe war jedenfalls zu gut konturiert, um mir negativ aufzufallen. Und Paul, der mir anfangs doch etwas klischeebehaftet vorkam, entwickelt sich auch weiter …
In ein paar Sätzen zusammengefasst: „Warten auf Wunder“ bietet eine noch gekonntere Melange aus Fröhlichkeit, Lebensfreude, Tragik und Nachdenklichkeit als Band 1. Die Leichtigkeit wird dabei auch durch die lebensfroh-lustigen Illustrationen von Rán Flygenring erzeugt. „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Warten auf Wunder” ist ein kleines Wunderwerk, das von der Illustration über das episodenhafte Erzählen, die bizarren Figuren, die Lebenstiefe bis hin zur sprachlichen Verspieltheit kaum zu überbieten ist. Ein Buch für Jung und Alt – wow!
(Ulf Cronenberg, 07.06.2014)
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Lieber Ulf,
wie schön, dass Du einen Teil dieses wundervollen Briefes zitiert hast. Mich hat es fast vom Hocker gerissen, als ich diesen sprachlichen Geniestreich gelesen hatte! Zum Glück ist F. O. Heinrich noch ziemlich jung und wir können hoffen, dass er die Freude am Schreiben nicht verliert.
Schöne Grüße
Britta
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Hallo Herr Cronenberg – in dem Buch bekommt die Krankheit meines Wissens keinen Namen – wer sagte denn, dass es sich hier um MS handelt?
Ja, das stimmt, es ist eine Interpretation von mir, die aber zum Krankheitsverlauf der Mutter sehr gut passt. Ich habe da länger recherchiert. Oder was könnte es sonst sein?
Wahrscheinlich ist es nicht wichtig, wie die Krankheit heisst, an denen die Mutter stirbt, sie bleibt fiktiv, ist sicherlich „inspiriert“ von MS oder ALS, bleibt aber nicht eindeutig, es ist ja keine Dokumentation oä – so will es wohl der Autor.
Jetzt stelle ich mir vor, dass ein minderjähriges Kind der Zielgruppe das liest, deren Mutter MS erkrankt ist und die von ihr anderes erzählt bekommt – – was eine andere leichtfertige Aussage auslösen könnte, ist doch nicht wirklich zu verantworten !
Ja, das kann passieren. Dann muss man drüber reden. MS hat ja sehr unterschiedliche Verläufe … Leider eben manchmal auch einen recht heftigen wie den im Buch.
Aber wenn Sie es nicht wissen, sondern nur vermuten, können Sie es doch nicht einfach behaupten, als wenn es so wäre – oder ?
Finn-Ole Heinrich, der die Buchbesprechung kennt, hat sich zumindest nicht beschwert … Ich glaube aus dem Austausch mit ihm zu wissen, dass das seine Vorlage war. Leider hab ich ihn in dem Interview mit ihm nicht explizit danach gefragt. Unsere Diskussion zeigt zumindest, dass das von mir eine Interpretation ist.