(Thienemann-Verlag 2014, 247 Seiten)
Acht Jahre ist es her, dass ich ein Buch von Martine Leavitt gelesen haben: „Mein Leben als Superheld“ erzählte die Geschichte eines Jungen, der seine verschwundene, psychisch kranke Mutter sucht und davon träumt, ein Superheld zu sein. Martine Leavitts neues Jugendbuch trägt den Titel „My Book of Life by Angel“ – so richtig kann man sich darunter nichts vorstellen. Vorab sei aber gesagt, dass es in dem Buch ganz schön zur Sache geht und dass der Versroman einen ernsten Hintergrund hat.
Inhalt:
Die 16-jährige Angel geht für Call, ihren Zuhälter, auf dem Babystrich, nachdem sie in dessen Klauen gelandet ist. Mit Drogen hat er das Mädchen angelockt, und inzwischen sind die Drogen dazu da, dass Angel ihr Leben überhaupt aushält. Call treibt ein perfides Spiel mit Angel, bot dem Mädchen einen Halt, den ihm sein Vater, nachdem die Mutter gestorben war, nicht mehr geben konnte.
Eines Tages wird das Ganze auf die Spitze getrieben, als Call ein weiteres Mädchen anschleppt: die 11-jährige Melli. Es ist klar, was Call beabsichtigt: Er will das verschüchterte und nicht sprechende Mädchen ebenfalls auf den Babystrich schicken und erwartet sich davon, dass sie ihm wegen ihres jungen Alters besonders viel Geld einbringt. Doch Angel will das verhindern. Call verlangt von ihr, dass sie dafür doppelt so viel Geld anschleppt wie bisher, quasi für beide verdient … Doch das ist praktisch unmöglich.
Dennoch versucht Angel sich zunehmend von Call abzugrenzen. Angel will Melli davor bewahren, dass diese das gleiche Schicksal erleidet wie sie selbst. Doch Call wehrt sich mit allen Mitteln dagegen und lässt Angel und Melli nicht aus den Augen …
Bewertung:
Ja, es geht heftig zu Sache in dem Buch, das auf einer wahren Begebenheit beruht. In Vancouver, wo das Buch spielt, ging in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Mörder um, der reihenweise Prostituierte umgebracht hat. Die Polizei hat das lange bagetellisiert und sich der Sache nicht angenommen, so dass über 40 Frauen getötet wurden. In „My Book of Life by Angel“ taucht dieser Hintergrund insofern auf, als bei den Mädchen auf dem Strich die Angst umgeht, dass sie von einem Freier getötet werden; und Angels beste Freundin ist gleich zu Beginn der Geschichte spurlos verschwunden und taucht nicht mehr auf.
„My Book of Life by Angel“ (Übersetzung: Clara Drechsler und Harald Hellmann) ist ein Versroman, ein Buch in freien Versen geschrieben – keine neue Idee, gerade wenn es um heftige Themen geht. Ellen Hopkins‘ „Crank“, das die Geschichte einer Drogensucht erzählt, hat das vorgemacht, und schon früher gab es die gelungenen Versromane von Margaret Wild („Jinx“ und „Eine Nacht“). Und schließlich war da auch noch „Verkauft“ von Patricia McCormick – die Geschichte eines nepalesischen Mädchens, das nach Indien verschleppt und dort zur Prostitution gezwungen wird. So ganz neu ist die Idee, die hinter Martine Leavitts Buch steht, also nicht …
Was die Verse angeht, so führen sie dazu, dass man die Sprache etwas bewusster als in einem erzählerischen Text wahrnimmt; zugleich lassen sie einem als Leser ein bisschen mehr Distanz als ein Prosatext. Für einen harten Stoff ist das ein gekonnter Kniff, um sich einem Thema zu nähern, ohne dass man als Leser davon erschlagen wird. Dennoch: „My Book of Life by Angel“ ist ein Buch, das unter die Haut geht und das man nicht einfach so runterliest. Das ist auch die Stärke des Romans: Das Buch nähert sich dem Thema Prostitution von Jugendlichen, ohne es zu verharmlosen, macht es aber für Jugendliche lesbar.
Sprachgewandt kommt das Buch daher: Die Drogen werden „Zückerchen“ genannt, wenn Melli Angel nicht zuhört, heißt es: „meine Worte wehten durch sie hindurch“ (S. 96). Man findet Wortwiederholungen, Ein- und Zweiwortfragen, viele Metaphern und Vergleiche – also alles, was man in Versen erwartet. Den ein oder anderen mögen die vielen sprachlichen Übertreibungen stören; man kann sie als jugendliche, dramatisierende Ausdrucksweise ansehen, aber man kann sie auch kritisieren, weil sie überkandidelt wirken. Aber letztendlich ist es das, was einen Versroman, ebenso wie Opern und Musicals (ich habe gestern erst das Filmmusical „Les Misérables“ gesehen: beeindruckend – abgesehen von dem mir zu rührselig Ende –, obwohl ich sonst wirklich gar nichts mit Musicals anfangen kann) ausmacht.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „My Book of Life by Angel“ ist ein schockierendes Buch über ein ernstes Thema, das man in der Jugendliteratur eher selten behandelt findet: Jugendprostitution. Dass sich Martine Leavitt an das brisante Thema herangetraut hat, muss man lobend hervorheben. Wie sie das Thema umgesetzt hat, ebenfalls. Die Verse, die Angel in ein Tagebuch schreibt, sind ausgeklügelt, die Figuren sind gut gewählt und werden gekonnt beschrieben. Nachvollziehbar wird auch abgehandelt, wie ein Mädchen ausgenutzt und zur Prostitution gezwungen wird.
Martine Leavitts Buch ist harte Kost, auch wenn das Buch den Leser geschickt immer ein wenig auf Distanz zu halten weiß. „My Book of Life by Angel“ ist kein Buch für zarte Naturen, auch wenn das Buch selten richtig explizit beschreibt, was Angel alles erleiden muss. Immerhin beginnt Angel sich irgendwann gegen Call zu wehren – mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg … Wer wissen will, wie die Geschichte ausgeht, muss das Buch aber selbst lesen, und ich würde „My Book of Life by Angel“ am ehesten Leserinnen und Lesern ab 15 Jahren empfehlen.
(Ulf Cronenberg, 22.04.2014)
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