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Buchbesprechung: Philip Pullman „Grimms Märchen“

pullman_grimmLesealter 10+(Aladin-Verlag 2013, 507 Seiten)

Keine Ahnung, ob Kinder heute eigentlich noch immer so mit den Märchen der Gebrüder Grimm aufwachsen wie ich in meiner Kindheit – wohl eher nicht. Jedenfalls hatten wir vor gut 40 Jahren nicht Benjamin-Blümchen- oder Bibi-Blocksberg-Kassetten (wie meine älteren Kinder), sondern eine Doppel-LP mit den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm. Seitdem bin ich jedoch nur ab und zu mit den Märchen konfrontiert worden (in Schulbüchern sind seltsamerweise eher unbekannte Märchen abgedruckt), und ein von Shaun Tan illustriertes und von Philip Pullman geschriebenes Märchenbuch war für mich Anlass, mal wieder Märchen zu lesen.

Ein gewagtes Verfangen – das war mein erster Gedanke, als ich mitbekommen habe, dass ein britischer Autor die Märchen der Gebrüder Grimm interpretiert und neu erzählt, diese dann wieder ins Deutsche zurückübersetzt werden – und zwar von Martina Tichy. Das erschien mir nicht nur umständlich, sondern zugleich fehleranfällig. Dennoch: Ich liebe die Illustrationen von Shaun Tan, und da er zu jedem Märchen abfotografierte Skulpturen beigesteuert hat, wollte ich mir das Buch anschauen.

Eine Auswahl von 50 Märchen hat Philip Pullman da getroffen – die bekanntesten wie „Rotkäppchen“ oder „Aschenputtel“ sind natürlich dabei. Los geht es jedoch erst mal mit einem fast 14-seitigen Vorwort, das alles andere als öde ist und bei dem man merkt, dass Philip Pullman seine Sache sehr ernst genommen hat. Das Vorwort ist nicht nur fachkundig und erläutert den Enstehungsprozess des Buches. Nein, es versprüht Charme und vor allem Begeisterung für das Erzählen von Märchen.

Unverkrampft geht Philip Pullman da heran: Er erläutert, was den Reiz von Märchen ausmacht (u. a. ihre Rasanz, also die Eigenschaft, sich auf das Wesentliche zu beschränken und die Geschichte mit Tempo voranzutreiben). Pullman spricht sich dafür aus, die Märchen nachzuerzählen und dabei an die eigenen Erzähl-Fähigkeiten anzupassen. Und genau das hat er auch selbst in den von ihm erzählten Märchen getan: sie behutsam überarbeitet, wo es ihm sinnvoll erschien.

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Abb.: Skulptur von Shaun Tan zum Märchen „Der Fischer und seine Frau“

Viel Arbeit steckt hinter den Märchenerzählungen, denn Philip Pullman hat verschiedene Fassungen aller Märchen gelesen, die seiner Meinung nach beste herausgesucht, aber auch diese nicht sklavisch nacherzählt. In den Erläuterungen am Ende jeden Märchens erklärt der Autor, warum er eine bestimmte Fassung verwendet hat, aber auch, warum er manche Märchen behutsam abgewandelt hat. Logische Schwächen in der Fassung der Gebrüder Grimm hat er auszugleichen versucht, der dramatisches Wirkung wegen Kleinigkeiten ergänzt … Vielleicht stehen hier Puristen die Haare zu Berge, aber entstanden sind so Märchenvarianten, die modern und erzählerisch pointiert vorgetragen werden.

Für mich war Philip Pullmans Märchenbuch insofern auch eine Entdeckung, weil ich aus meiner Kindheit nicht alle Märchen kannte. Klar, „Dornröschen“ oder „Hänsel und Gretel“ dürfen nicht fehlen, aber „Die zwölf Brüder“ war mir unbekannt – und so dürfte mancher Leser in der Märchensammlung einige neue Perlen finden.

Schließlich sind da natürlich noch die Skulpturen von Shaun Tan – zu jedem Märchen gibt es eine Bildtafel. Die Skulpturen machen aus dem Buch „Grimms Märchen“ jedenfalls ein Schmuckstück. Das sind keine verniedlichenden und hausbackenen Bilder, wie man sie sonst oft in Märchenbüchern findet, sondern Kunstwerke mit einer eigenen Bildsprache: Grau-braun gehalten sind die abfotografierten Tonfiguren, immer wieder akzentuiert mit bewusst gesetzten farbigen Elementen.

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Abb.: Skulptur von Shaun Tan zum Märchen „Allerleirauh“

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Grimms Märchen“, erzählt von Philip Pullman und illustriert von Shaun Tan, ist das, was man ein Familienbuch nennen könnte. Erwachsene werden sich nicht nur an den gekonnt erzählten Märchen, sondern auch am Vorwort, an den Illustrationen und an den Kommentaren zu jedem Märchen erfreuen, weil sie die Märchen erweitern; Jugendliche mögen sich mit dem Band auf Entdeckungsreise in die Welt der Märchen, die unsere Kultur mitgeprägt haben, begeben; und Kindern sollten die neu erzählten Märchen vorgelesen werden.

Meine anfänglichen Bedenken bezüglich der doppelten Übersetzung sind jedenfalls zerstreut – die erzählerischen Eingriffe von Philip Pullman tun den Märchen gut, und durch die Erläuterungen der Veränderungen im Nachwort zu jedem Märchen tun sie auch niemandem weh. Wer ein schmuckes und gelungenes Märchenbuch sucht, der sollte Philip Pullmans Buch auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Eine schönere Ausgabe von Grimms Märchen dürfte derzeit wohl nicht auf dem Markt sein.

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(Ulf Cronenberg, 11.11.2013)

P. S.: Mein Dank geht an den Aladin-Verlag, der mir die beiden Illustrationen von Shaun Tan für diese Besprechung zur Verfügung gestellt hat.

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